Adventskalender 2018

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Vorwort


Wenn es dunkel ist und nur eine Kerze ihr Licht verbreitet, dann sind die tanzenden Schatten die Protagonisten dieser Geschichte. Wann, lieber Leser, hast Du das letzte Mal eine Geschichte mit einer Taschenlampe bewaffnet unter der Bettdecke gelesen? Wann hast Du dir das letzte Mal eine „Höhle“ gebaut, um dich dahin zurückzuziehen, damit Du in Deiner Phantasie auf eine Abenteuerreise gehen kannst? Wann warst Du das letzte Mal der Held in der Geschichte? Lass Deine Pflichten und Sorgen für kurze Zeit hinter dir und werde Teil einer Geschichte, welche Dich entführen soll in ein Land und eine Zeit, in der alles möglich ist.


Die nachfolgende Geschichte spielt in Elona vor den Gildenkriegen. Abaddon ist der Gott der Geheimnisse und die Menschen führen ein karges, aber selbstbestimmtes Leben. Die Herrscher am Großen Hof von Sebelkeh tragen Reichtümer zusammen, und einmal im Jahr feiern alle das Fest der Lyss im Garten von Seborhin. Und dann passieren Dinge, so geheimnisvoll wie der Gott der Geheimnisse selbst, und ich habe mich gefragt, kann so etwas Zufall sein oder ist es doch alles Absicht?

Ich wünsche viel Spaß beim Lesen der Geschichte und vielleicht, nur vielleicht, weißt Du anschließend, ob alles einem großen Plan folgt oder nicht.




Das Geheimnis von Abaddon


„Raus! Du bist ein Betrüger an der Kunst der Nekromantie! Wir, die Gildenmagier, verbannen dich auf ewig aus unserer Zunft. Keiner soll dich jemals mehr als Nekromanten anerkennen.“ In dieser Sekunde schlägt ein Blitz in den Stab vom alten Zun ein und spaltet ihn. „Seht“, ruft es da vom hohen Turm, „Grenth selbst bestätigt unser Urteil.“ Es fängt an zu regnen und das fahle Mondlicht erhellt für einen Augenblick das bleiche Gesicht von Zun. Unter dichten Augenbrauen sitzen zwei kalt leuchtende Augen, die einen kurzen Moment wie im Feuer auflodern. Dann kehrt das Schwarz in ihnen zurück. Der Mundwinkel, der von einem langen, schwarzen, zerzausten Bart eingerahmt wird, zuckt kurz, doch dann kommt wider Erwarten kein Ton hervor. Ein letztes mal schaut er auf die Gildenmagier, die ihn soeben aus ihren Reihen verbannten. Und wofür? Weil er das Blut eines Kindes vergießen wollte. Diese Kleingeister verstanden nicht, dass kraftvolles Blut noch übertroffen werden könnte, wenn das Blut eines unschuldigen Kindes geopfert würde. Er war so kurz davor gewesen, endgültig unsterblich zu werden. Egal, was ihn verletzt hätte, er wäre wieder auferstanden. Die Seiten im Almanach der Unsterblichkeit aus der Bibliothek des Abaddon waren eindeutig. Unter unsäglichen Qualen hatte er diesen Almanach aus der Bibliothek der Götter gestohlen und jetzt war alles umsonst! Zun zieht seine Kapuze tiefer in das Gesicht und verlässt den Schauplatz. Flüche und letzte böse Worte, die hinter ihm hergerufen werden, prallen einfach an ihm ab.


Der Himmel verdunkelt sich weiter und der Regen wird stärker. Es dauert nicht lange, und Zuns Kutte ist so durchnässt, dass jeder weitere Tropfen direkt auf seine nackte Haut durchdringt. Wie Rinnsale fließt das Wasser an ihm herab, doch dort, wo es den Boden berührt, zischt es kurz und die Erde wird pechschwarz. Das war einer der Preise, welche er für den Zugang zur Bibliothek des Abbadon zahlen musste. Jeder Wassertropfen, der den Körper von Zun berührt, wird zu einer Säure, die alles auflöst, was sie erreicht. Für Zun spielt dies keine Rolle. Er ist verbittert.


Ich war so nahe dran!, denkt Zun bei sich. Sie haben mir alles genommen! Jahrzehnte der Forschung. Die Körperteile, die ich opfern musste, die Verwandlungen, die ich überstehen musste, um in die Bibliothek zu kommen. Die Tränke, die mich verändert haben. All die Schmerzen! Zun schaut in den Himmel und setzt zu einem Schrei an. Schon bei den ersten Tönen fallen Vögel tot vom Himmel. Die Bäume rascheln mit ihren Ästen und die Blätter werden schwarz und zerfallen auf dem Weg zum Boden einfach zu Staub. Dabei schreit Zun nur ein einziges Wort: „RACHE!“ Er will Rache an denen nehmen, die ihn verstoßen haben. Der Almanach der Unsterblichkeit! Ich will ihn zurück! Der Wind drückt seine Kapuze nach hinten und legt sein Gesicht frei. Bei jedem Windstoß, der den Regen noch heftiger gegen ihn prasseln lässt, zischt es laut und unheimlich. Zun schaut zum Mond und für einen winzigen Augenblick sieht es so aus, als würde der Mond ihn angrinsen. Da reißt Zun die Reste seines Stabes hoch und ruft: „Abaddon, Gott der Geheimnisse, du hast nicht nur den Almanach der Unsterblichkeit verloren sondern auch das Rezeptbuch zu Seelenbinder. Ich schwöre, ich werde diesen Dolch bauen und mich mit ihm verbinden. Er wird meine Rache sein für das, was die Gildenmagier mir angetan haben!“ Da erscheint auf dem Mond die Abbildung eines Margoniters, eines treuen Dieners des Gottes Abaddon. Zun weiß, der Diebstahl der Bücher ist bemerkt worden und er hat nur noch wenig Zeit, die Macht zu nutzen. So aktiviert er das Siegel der Heuschrecke, das auf seinen Körper tätowiert ist, um so schnell wie möglich sein Haus im kleinen Dorf Dschalalabad zu erreichen.

„Avalyn! Avalyn! Wo steckt deine Tochter schon wieder?“, ruft aus dem hinteren Bereich des Feldes eine männliche Stimme. „Ach, jetzt ist Avalyn nur meine Tochter?“, fragt eine Frauenstimme belustigt. „Warum rufst du überhaupt nach ihr?“ – „Sie muss noch die Hühner füttern“, antwortet die Männerstimme. „Sie wird wieder bei ihrem gefundenen Raptorei sein“, antwort Avalyns Mutter. Eine Feststellung, die Avalyns Vater gar nicht gefällt: „Sie ist besessen davon, ein Raptorei auszubrüten, um ihn dann großzuziehen. Dieses ‚Ich will eine Raptor-Mama sein‘ hat sie garantiert von dir. Typisch Frau.“ – „Und ich werde es schaffen, ihr werdet es sehen!“, tönt da die glockenhelle Stimme eines Mädchens. „Avalyn! Wo warst du schon wieder?“, fragt der Vater mit einem strengen Ton in der Stimme. Das kleine Mädchen von vielleicht zwölf Jahren läuft auf ihren Vater zu, lacht ihn an und nimmt ihn in die Arme. Obwohl er eigentlich schimpfen wollte, kann Papa nur mit einem Lächeln auf seine Tochter hinabblicken. Ihre tiefbraune Haut, ihr rotes Lockenhaar, die schmale Taille, es gab schon einige Anfrage von anderen Familien, um Avalyn in vielleicht drei bis vier Jahren zu verheiraten. So ist es normal hier in dieser Gegend. Es sichert den Frieden und den Wohlstand. So war es schon immer gewesen, doch Avalyn ist etwas Besonderes. Sie ist anders als die anderen Kinder hier. Sind es ihre blauen Augen, die so tief zu sein scheinen wie ein See, der keinen Grund kannte, oder war es die Marotte von Avalyn, immer nur barfuß zu laufen? Eltern sehen in ihren Kindern immer etwas Besonderes, aber Avalyn war nicht nur hübsch und intelligent, nein, ihr Vater wusste, dass seine Tochter einmal etwas Besonderes sein oder schaffen würde. So blockte er alle Anfragen nach Verlobungen und Hochzeiten ab.


Der Blick des Vaters richtet sich zum Hühnerstall, als er sagt: „Mein kleiner Wirbelwind, die Hühner warten. Sie müssen gefüttert werden.“ Wie eine Rakete zischt Avalyn los und schon ist sie zwischen den Feldern verschwunden. Ihr Vater schüttelt nur den Kopf und schaut kurz hinüber zu den Bergkuppen, welche Kourna so wunderschön machen. Sonnenstrahlen tanzen an den Berghängen und nur das Stück Wald unterhalb, am Fuße der Berge, lässt den Moment des Stolzes zu Furcht werden. Dort, so weiß er, steht die Hütte von einem Nekromanten. Kaum einer hat ihn je gesehen. Er kommt nie ins Dorf zum Einkaufen und als die Dorfbewohner einmal allen Mut zusammengenommen und an seine Tür geklopft haben, hörten sie einen Schrei, der so grausam war, dass zwei von ihnen vor Schreck gestorben sind. Von diesem Tag an wurde die Hütte des Nekromanten immer weitläufig umgangen. Selbst Tiere oder Vögel meiden diesen Ort. Er hat seiner Tochter streng verboten, in Richtung der Hütte zu gehen, und glücklicherweise hält Avalyn sich an dieses Verbot. Ihr Vater verdrängt die trüben Gedanken und geht wieder an seine Arbeit. So schön, wie das Sonnenspiel an den Berghängen anzusehen ist, tut sich die Arbeit nicht von allein.

Als der alte Zun an seiner Hütte ankommt, ist der Mond schon zum Teil hinter den Bergen verschwunden. Der Vollmond steht bald bevor und Zun weiß, die Margoniter, die ihn suchen, werden ihn spätestens dann finden, wenn der Mond in Vollendung über dem Himmel schwebt. Das Licht des Mondes wird den Dieb verraten und Abaddon kann seine Margoniter losschicken, um sich den Almanach zurückzuholen und das Rezept des legendären Dolches „Seelenbinder“. Noch, allerdings, wirkt sein Verdunkelungszauber.


Als der Alte die Tür zu seiner Hütte öffnet, heulen die Scharniere wie gequälte Seelen auf. Mit langsamen Schritten betritt er die Hütte, die komplett in Dunkelheit gehüllt ist. Mit einer Bewegung des linken Fingers flammen zwei schwarze Kerzen auf und geben etwas Licht. Grade genug, dass Zun sehen kann, wohin er geht. Ein Beobachter hätte festgestellt, dass sein linkes Bein bei jedem Schritt über den Boden schleift. Nach der Rennerei zurück zur Hütte, unter dem Einfluss des Siegels der Heuschrecke, breiten sich wieder extreme Schmerzen von dem Bein aus. Damals, bei seinem Einbruch in die Bibliothek des Abaddon, hatte er unter anderem eine Falle übersehen. Es war eine Giftfalle, die von drei Seiten, drei verschiedene Gifte in sein Bein spritzte. Ein Drittel von seinem Fuß wurde schwarz und faulte. Bei einem Drittel verschwand ganz einfach das Fleisch, und die Knochen der Zehen blieben als einziges zurück. Das letzte Drittel blieb unverändert, so dass Zun schon Hoffnung hatte, doch dann kamen die Schmerzen. Wie Wellen heißer Glut strömten sie das Bein hoch. Es dauerte Tage nach dem ersten Anfall, bis Zun wieder bei Besinnung war. Er überlegte nach der zweiten Schmerzwelle, wenige Tage später, das Bein einfach abzuschneiden und sich durch nekrotischen Zauber, das Bein eines Toten als Ersatz zu holen. Doch seine Experimente zeigten sehr schnell, dass sich das Bein nicht abschneiden lässt. Was er auch versucht, das Bein nimmt keinen Schaden. Das Einzige, was in seiner Macht liegt, ist, die ersten zwei Drittel zu behandeln, so dass sein Fuß auf den ersten Blick wieder normal aussieht. Doch die Schmerzen bleiben und jede Schmerzwelle tötet ein Stück mehr die Gefühle, die Zun noch hat. Das Einzige, was dem Alten bleibt, ist die Gier nach Macht. Er will unsterblich werden. Sein Ziel, der oberste Gildenmagier zu werden und allen anderen seinen Willen aufzudrücken, ist für ihn Passion, Leidenschaft, und allein der Gedanke daran versetzt ihn in einen Rausch.


Er hatte den Almanach und wusste, welche Zutaten er benötigte. Fast alles hatte er in der Gildenhalle der Magier gefunden. Nur eines konnten ihm die Truhen und Gewölbe nicht bieten: das Blut eines unschuldigen Kindes. Er wusste genau, dass bei aller Eitelkeit, Experimentierfreude und Machtgelüsten seiner Gildenmitglieder keiner diesen Schritt wagen oder akzeptieren würde. Es musste heimlich und leise in der Dunkelheit passieren. So verließ Zun vor drei Nächten die Gildenhalle der Magier. Das Schicksal wollte es, dass eine Karawane mit Schaustellern seinen Weg kreuzte. Er stellte sich als Gildenmagier vor und setzte sich zu den Schaustellern ans Feuer. „Wohin des Weges?“, war seine Frage an die Schausteller. Die Gruppe antwortete abwechselnd. Jeder hatte ein Stück zu erzählen und so fiel der Blick von Zun auch auf Jahdaya und Nefrote. Beide waren keine Menschen sondern Zentauren. Sie begleiteten die Truppe, um beim Transport von Standort zu Standort zu helfen. Das Aufblitzen der Augen von Zun wurde dann aber durch etwas ganz anderes ausgelöst. Ein dritter Zentaur erschien. Schwach, er konnte sich kaum auf den Beinen halten. Er war jung, gerade erst einen Tag alt. Sein Name lautete Palawa Joko. Zun konnte das unschuldige Blut spüren. Das Verlangen, sich den jungen Zentauren einfach zu schnappen, wühlte wie eine Sturmwelle in seinem Inneren. Nur mit größter Mühe, blieb er scheinbar entspannt sitzen. Unhörbar für die anderen und ohne die Lippen zu bewegen, webte Zun ein magisches Tuch, dass seine Zuhörer und alle im Umkreis einschlafen ließ. Er durfte sie nicht töten. Nichts durfte die Unschuld des jungen Zentauren beflecken. So fielen alle innerhalb von Sekunden in einen tiefen Schlaf und als Zun aufstand und bei dem junge Zentauren ankam, reichten ihm einige aus dem Boden gestiegene Gerippe, um Palawa Joko abzutransportieren.



Als er die Gildenhalle mit seiner Last betrat, tauschte Zun die Gerippe gegen Geister aus. Kein Klappern von Knochen durfte ihn jetzt verraten. Die Geister verlangten mehr Energie und Kontrolle und der Alte spürte, wie eine neue Schmerzwelle heranrollte. Mit Hilfe ihrer Magie nahmen die Geister den Körper des Zentaurenjungen und schwebten die Gänge entlang. Zun beeilte sich, als eine Tür quietschte und Akmeo, ein Elementarmagier, zusammen mit einem Feuerelementar den gleichen Gang passierte, den Zun und die Geister gerade benutzt hatten. Mit aller Gewalt baute Zun einen Verdunkelungszauber auf, sodass Akmeo sie nicht bemerkte. Nur der Feuerelementar zögerte einen Moment, doch die Kraft der Bindung an seinen Herrn zwang ihn weiter. Das Verdunkelungsfeld erlosch und Zun gab sich einen Moment der Schwäche hin. Da ließen die Geister den jungen Zentauren los, der auf den Boden knallte. Sofort schreckte Zun hoch und bestrafte die Geister, in dem er sie an seinen Schmerzen teilhaben ließ. Die Geister heulten gepeinigt auf, was Zun gar nicht recht war. So hob er den Bestrafungszauber wieder auf und die Geister hoben den Zentaurenjungen schnell wieder an und flogen in Formation weiter in Richtung des Arbeitsbereiches von Zun. Als die Tür sich geschlossen hatte, entließ der Alte die Geister und lehnte sich erst mal an die Tür. Die Schwäche, die sich in ihm ausbreitete, sorgte für einen kurzen Augenblick des Ausruhens. Doch nur kurz, denn die nächste Schmerzwelle rollte heran und Zun wusste, ihm lief die Zeit davon. Er musste jetzt das Ritual beginnen, sonst würde der Schmerz ihn für mindestens drei Tage außer Gefecht setzen, und solange würde der Zentaurenjunge nicht schlafen.

Zun ging an den ersten Schrank und holte die benötigten Edelsteine, Quarze, Metalle und Kräuter. Er legte alles auf den linken von drei Tischen, die um ihn herum aufgebaut waren. Dann ging er zu dem zweiten Schrank und holte den Almanach heraus. Diesen legte er auf den mittleren Tisch und schlug ihn auf. Auf den dritten Tisch kamen Artefakte aus vergessenen Tagen, als die Drachen noch über Tyria herrschten. Ein Zahn von Jormag, vom Drachen des Eises. Eine Klaue von Zhaitan, dem Drachen des Todes. Eine Schuppe von Mordremoth, dem Drachen des Dschungels, und ein Edelstein aus dem Rücken von Kralkatorrik, dem Kristalldrachen. Über zwanzig Jahre hatte Zun auf der Suche nach den Artefakten verbracht. Jetzt war es soweit. Der junge Zentaur lag eingerahmt von den Tischen ruhig da. Zun nahm das Buch und las. „Für die Unsterblichkeit muss dein Name aus dem Buch des Grenth getilgt werden. Nur eine Macht, die größer ist als die vom Gott des Todes, kann dies vollbringen. Nur Blut eines unschuldigen Kindes ist stark genug, um die Macht aufzunehmen, die sich konzentrieren muss, um diesen Vorgang auszulösen.“ Zun nahm Kräuter und verstreute diese auf dem Körper des Zentauren. Dann legte er die Schuppe von Mordremoth auf den Körper des Jungen. Es zischte, die Kräuter verbrannten und die Schuppe verschwand im Körper des Zentauren. Dabei wirbelten die Füße des Zentaurenjungen wild hin und her. Die Schmerzen, die er erlitt, waren ihm anzusehen. Da schossen Lianen aus seinem Bauch und hielten seine Hufe fest umschlungen. Befriedigung zeigte sich auf dem Gesicht des Alten. Zun nahm für den nächsten Schritt die Metalle, die er vorbereitet hatte, und legte diese sorgsam neben dem Jungen hin, der sich immer noch gegen die Fesseln wehrte. Zum Schluss nahm er den Zahn von Jormag und positionierte ihn auf dem Kopf des Jungen. Ein dumpfer Schrei ertönte aus der Kehle und Zun hörte die Verzweiflung in der Stimme. Der Junge atmete aus und aus seinem Mund entwich ein Nebel, der sich seinen Weg zu den magisch aufgeladenen Metallen suchte. Als der Eisatem die Metalle berührte, verflüssigten sich diese und suchten sich ihren Weg in den Mund des jungen Zentauren. Eine Flussrichtung kochte und dampfte wie flüssige Lava, eine andere gebar kleine Eiskristalle auf dem Boden. Die dritte wiederum hinterließ auf ihrem Weg zischende, tiefe Spuren im Boden. Als alle drei gleichzeitig am Mund des Jungen ankamen und darin einsickerten, sah man an den Augen, wie er weinte. Doch es waren keine Tränen, es waren Kristalle, so kalt, dass der Boden zersprang, als die Tropfen aufkamen. Da nahm Zun die Edelsteine und positionierte sie als Dreieck um den Zentaurenjungen herum. Auf dem Rücken des Jungen platziert er den Kristall von Kralkatorrik. Erst passierte nichts, doch dann strömte sichtbar Energie von den Edelsteinen in den Kristall. Die Energie verstärkte sich und Zun konnte sehen, wie der Kristall immer mehr Energie von den Edelsteinen anforderte. Der Körper des Zentaurenjungen wurde von heftigen Energieschlägen getroffen und mit jedem Treffer zuckte er stärker und versuchte zu schreien, doch kein Ton kam aus seinem Mund. In einem Blitzlichtgewitter schmolzen die Edelsteine, und der Kristall zerfiel zu Staub, der über die Nüstern am Kopf den Weg in das Innere des Zentaurenjungen fand.


Als letztes, so wusste Zun, musste er ein Wesen opfern, damit die Lebensenergie die Klaue des Zhaitan aktivieren konnte. Schon vor langer Zeit, hatte Zun dafür seinen Diener auserwählt. Jeder, der in die Reihen der Gildenmagier aufgenommen wurde, bekam einen Diener zur Seite gestellt. In seinem Fall war es ein Bauernjunge. Leider nicht mehr unschuldig, da er mit 14 Jahren schon zu viel Dummheiten angestellt hatte, als noch als unbefleckt zu gelten, aber gut genug, um mit seiner Lebensenergie die Klaue des Zhaitan zu aktivieren. So rief er den Diener, und als der Junge mit seinen langen blonden Haaren und den zerzausten Sachen in das Zimmer kam, sah er voller Grauen auf den Zentaurenjungen. Der alte Zun wusste, dass sein Diener diese Szene nie verstehen würde. Vielleicht käme er auch auf dumme Gedanken? So nahm er ihm mit einem Fluch den eigenen Willen und setzte ihn neben die hintere Flanke des Zentauren. Zun holte die Klaue, und legt diese seinem Diener in die rechte Hand. Die linke Hand legte er auf den Körper des Zentaurenjungen. Der Diener schrie auf, als Zun den Fluch löste, und der Alte sah, wie der Junge die Klaue loslassen wollte, doch es war bereits zu spät. Die Klaue saugte die Lebensenergie aus dem Jungen heraus, der zum Mann wurde, um dann in Sekundenschnelle weiter zu altern, bis er nur noch ein alter Greis war. Ein letztes Aufstöhnen, dann zerfiel der Körper des Dieners zu Staub. Die Klaue des Zhaitan pulsierte und ein schwarzer Nebel legte sich über den Körper des Jungen, der dann über die Poren in den Körper einsickerte. Mit versagenden Beinen setzte sich Zun vor dem Jungen hin. Er hatte es geschafft; die Energie der Unsterblichkeit floss im Blut von Palawa Joko.


Dann, als alles vorbei war, lag der Zentaurenjunge still da, so als ob nichts gewesen wäre. Einen Moment der Ruhe noch. Der Schmerz im Bein! Nein! Die Welle spülte heran! In letzter Sekunde, schwer keuchend, behielt Zun ein letztes Mal die Kontrolle. Er musste sich beeilen. Mit schweren Schritten ging er zum Schrank, um den Dolch zu holen. Ein Dolch der Jotun, mit Runen verziert und im Blut der Harpyien getränkt. Die Runen waren der Schlüssel, um das Blut beim Öffnen des Körpers rein zu halten. Zun betrachtete die Klinge und griff dann zum Gefäß, welches daneben stand. Hier drin wollte er das Blut auffangen, das ihn unsterblich machen würde. Da hörte er Stimmen auf dem Gang und wildes Geklopfe dröhnt an seiner Tür. Zu früh! Sie müssen etwas gemerkt haben. Panik stieg in Zun auf. Mit harter Hand umschloss er das Messer und ging auf den Zentaurenjungen zu. Die Hand erhob sich zum Stoß, als die Tür mit einem lauten Knall in Richtung des Zimmers aufflog. Ein Seil band sich gedankenschnell um die Hände von Zun, und in diesem Augenblick wusste er, dass er verloren hatte. Den Schrei vom Namen des jungen Zentauren, gerufen von seinen Eltern, bekam Zun schon nicht mehr mit. Die Schmerzwelle rollte heran und ohne die Kraft der Abwehr versank Zun in einem Meer von Schmerzen, sodass die Ohnmacht ein gnädiges schwarzes Tuch war, die sein Bewusstsein zudeckte.

Avalyn genießt jeden Schritt, den sie barfuß durch die Weiten von Kourna laufen kann. Einmal hat sie tatsächlich versucht, Schuhe zu tragen, und nur mit Grauen denkt sie an die Zeit zurück. Sie fühlte sich wie abgeschnitten von der Erde. Sie konnte kaum laufen. Die Beine zitterten und jeder Schritt war eine Qual. Ihre Eltern merkten, dass Avalyn das Gefühl der Füße zur Erde brauchte. Keiner konnte ihnen sagen, warum, aber die Eltern akzeptierten es und so läuft Avalyn, egal bei welchem Wetter, barfuß durch die Gegend. Dabei erreicht sie extreme Geschwindigkeiten für ein Mädchen ihres Alters. Jungen aus der Gegend hatten immer versucht, sie in einem Wettrennen zu schlagen, aber selbst die 16-Jährigen waren nicht einmal annähernd so schnell wie Avalyn. Noch ein Rätsel, was keiner zu erklären vermochte. Avalyn wurde damit nur noch mehr zu etwas Besonderem für ihre Eltern.


Es war eines Abends, als das Mädchen ganz aufgeregt nach Hause kam. In der Hand ein Ei, welches ziemlich groß und braun gesprenkelt war. So ein Ei hatte zuvor niemand gesehen. „Woher hast du es, Avalyn?“, fragte die Mutter. Die Tochter fing an zu erzählen, dass sie ein Nest in der Nähe vom Sumpf, unweit von der Hütte des Nekromanten, gefunden hatte. Dort hatten viele kaputte Eierschalen und dieses eine Ei gelegen. Die Mutter schaute Avalyn böse an. „Du weißt, dass es dir streng verboten ist, in dieses Gebiet zu laufen.“ – „Aber …“, beginnt Avalyn den Satz, den ihre Mutter aber sofort unterbricht. „Kein Aber, Avalyn! Du kennst die Regeln. Eine Woche Hausarrest und jetzt nach oben!“ Mit hängendem Kopf und dem Ei in der Hand lief das Mädchen nach oben auf ihr Zimmer. Der Tag war anstrengend gewesen und so zog Avalyn sich aus und legte sich zusammen mit dem Ei ins Bett. Sie drückte es ganz fest an sich und dann spürt sie es. Etwas bewegte sich in dem Ei. Mit der Wärme ihres Körpers und der Bettdecke hielt sie das Ei warm und sie glaubte, ein befriedigendes Knurren zu spüren. „Wer bist du und was bist du?“, fragte sie leise das Ei, doch eine Antwort bekam sie nicht.


Solange, wie der Hausarrest wirkte, half die Kleine ihren Eltern auf dem Feld. Dabei nutzte sie jede sich bietende Gelegenheit, nach dem Ei zu schauen, das warm und beschützt unter der Bettdecke lag. Am Nachmittag des vierten Tages ihrer Strafe kam Besuch auf den Hof. Atheus, ein Gelehrter, kam zu Besuch. Als alter Freund der Familie war es für alle eine willkommene Abwechslung, ihn zu sehen. „Atheus kommt!“, rief Avalyn schon von Weitem und stürmte los. Der Gelehrte öffnete weit seine Arme, als Avalyn angelaufen kam, und das Mädchen sprang mit voller Energie in sie hinein. Wenig später lagen beide auf dem Boden und lachten, während sich die Eltern dazu gesellten. „Mein Wirbelwind, wie habe ich dich vermisst“, kam es von Atheus. „Du bist groß geworden.“ Avalyn strahlte Atheus an und meinte: „Bald bin ich schon eine richtige Frau.“ – „Jetzt komm aber erst mal runter von Atheus“, kam da die Stimme des Vaters. „Wir wollen unseren Gast auch begrüßen.“ Es folgten herzliche Umarmungen und feste Handschläge. „Schön, dass du Zeit gefunden hast, uns zu besuchen. Komm mit ins Haus, wir haben frisches Brot und eine Karaffe mit dem besten Elonischen Wein für dich.“ So bewegten sich alle ins Haus und Atheus berichtete von seinen Abenteuern, die er erlebt hatte. Mit jedem weiteren Kelch Wein wurden die Geschichten wilder und als die Sonne hinter den Bergen versank, blieb nur noch ein Gefühl von Bettschwere übrig. Da kam Avalyn ein Gedanke. „Atheus, ich habe etwas gefunden, darf ich es dir zeigen?“ – „Es soll meine letzte gute Tat für heute sein“, meinte Atheus und stand auf, um dem Mädchen in sein Zimmer zu folgen.


„Was hast du denn gefunden?“ – „Es ist ein Ei.“ – „Mhhh, und was für ein Ei?“ – „Das weiß ich eben nicht.“ – „Bitte zeig es mir.“ Avalyn ging an ihr Bett und schlug die Bettdecke zurück. „Bei Abaddons Tanzgelüsten, es ist ein Raptor-Ei“, kam der erstaunte Ausruf von Atheus. „Wo hast du es her?“ Avalyn erzählte die Geschichte, wie sie für sich auf Entdeckungsreise gegangen war und ein neues Gebiet erforschen wollte. Dabei hatte ihr Weg sie bis in den Sumpf geführt, der schon zu dem Gebieten gehört, den ihre Eltern verboten hatten zu betreten. Dort hatte sie das Nest gefunden. „Viele Eierschalen langen herum, nur das eine Ei war noch ganz.“ – „Was willst du mit dem Ei jetzt machen?“, fragte Atheus. „Ausbrüten, was sonst?“, kam da von Avalyn. Atheus schüttelte den Kopf: „Der Inhalt, wenn er mal gelebt hat, ist längst tot. Es wird nichts schlüpfen.“ Doch das Mädchen schüttelte den Kopf. „Ich spüre Bewegung in dem Ei, das Raptorjunge meldet sich bei mir.“ – „Es meldet sich?“, fragte Atheus erstaunt nach. „Wenn wir zusammen im Bett liegen“, erklärte Avalyn, „höre ich sein zufriedenes Knurren.“ Atheus wusste um die besonderen Fähigkeiten von Avalyn und so lachte er nicht oder zog ihre Worte in Zweifel. Er beschloss für einige Tage dazubleiben. Zu sehr interessierte ihn zu sehen, ob der Raptor wirklich schlüpfen würde und wie die Verbindung zwischen Avalyn und ihm funktionierte.


Als Atheus am nächsten Morgen beim Frühstück erzählte, dass es sich um ein Raptor-Ei handelte, war die Verunsicherung erst einmal groß. Raptoren sind Raubtiere mit großen, scharfen Zähnen und sie sind nicht grade für ihr Mitgefühl bekannt. Doch Atheus überzeugte die Eltern, Avalyn das Ei weiter zu lassen. Mit Hinweis auf die besonderen Fähigkeiten des Mädchens und dem Versprechen, auf sie aufzupassen, beruhigten sie sich wieder. So vergingen die Tage und als Avalyn eines Abends nach harter Arbeit auf dem Feld zurückkam, spürte sie, dass sich etwas verändert hatte an dem Ei. Sie nahm es von der Bettdecke und drückte es gegen ihren Bauch. Eine Frage entstand in ihrem Kopf. Schwach, kaum verständlich. Die Frage schien nur ein Wort zu haben. Schlüpfst du bald?, fragte Avalyn in Gedanken. Keine Antwort. Hast du Hunger? Gedankenbilder, nur ganz schwach, entstanden in ihrem Kopf. Nein, mit Fressen hat es nichts zu tun. Das Mädchen hatte den Eindruck, als ob viele Raptoren im Kreis stünden und einer in der Mitte wäre. Alle fragten das gleiche und dann erkannte Avalyn die Frage. Name? Der Raptor wollte wissen, wie er hieß. Sie überlegte nicht lange, Atheus hatte ihr Bilder gezeigt, wie der Raptor aussehen würde und so hatte sie schnell einen Namen für ihren Raptor gefunden. Wirbelwind sollst du heißen. Du sollst schneller beim Rennen sein als ich, aber das werden wir sehen. Wir werden zusammen um die Wette laufen. Ein Signal der Zufriedenheit ging von dem Ei aus und so legten sie sich zusammen wieder unter die Bettdecke. Das Ei vermittelte ihr das sichere Gefühl, bald wäre es soweit, dann würde Wirbelwind schlüpfen.

Mit den Gedanken wieder in der Gegenwart nimmt Zun das Rezept zu Seelenbinder und befiehlt diesem, sich an der langen Wand seiner Hütte auszubreiten. Aufmerksam studiert der Alte die Schritte, die genau eingehalten werden müssen, um den legendären Dolch zu bauen. Allein die Materialien in diesem Rezept hätten jeden Normalsterblichen davon abgehalten, diese Waffe zu bauen. Edelsteine, Metalle, Kräuter – alles aus der höchsten Kategorie. Dazu Krallen, Knochen, Blut und Gifte, welche sich in diesem Dolch vereinigen. Die Besorgung der benötigten Materialien in solchen Mengen würde Jahrzehnte in Anspruch nehmen. Doch Zun ist alt, sehr alt, und so hat er von seinen Reisen viel an wertvollen Materialien mitgebracht. Was noch fehlt, kann er besorgen. Auch ohne Zugriff auf die Bank der Gildenmagier hat er ein verborgenes Versteck, die tiefen Höhlen, wo vieles gelagert ist, was er von seinen Reisen mitgebracht hat. Diese Reserve sollte jetzt helfen. Ausgerüstet mit einer Liste der Sachen, die er für den ersten Schritt benötigt, verlässt Zun mit schweren Schritten seine Hütte.


Draußen ist die Sonne untergegangen und durch den Neumond wirkt das Sumpfgebiet um die Hütte herum kalt, dunkel und gefährlich. Doch was soll einem Nekromanten wie Zun schon gefährlich werden? Er selbst ist das gefährlichste Lebewesen in der Umgebung.

Sein Weg führt ihn nordöstlich in Richtung der Berge. In einiger Entfernung stehen die Hütten der Bauern, welche den Weg zu seiner Hütte tunlichst vermeiden. Sie wissen schon genau, warum. Zun läuft weiter und selbst die Raubtiere machen einen Bogen um ihn, sobald sie seine Aura spüren. Nur ein Raptor-Weibchen stellt sich Zun in den Weg. Der Alte hebt den Stab, doch der Fluch, den er auslösen will, verpufft, da der Stab immer noch vom Blitzeinschlag beschädigt ist. So erhebt Zun seine Stimme und murmelt Worte, die kalt, grausam und voller Bosheit sind. Das Raptor-Weibchen will grade zum Sprung ansetzten, als es zu Staub zerfällt. Ein letzter krächzender Laut ist alles, was noch zu hören ist. Zun streckt die Nase in die Luft und riecht. Ja, ein Stück weiter rechts muss es sein, denkt er bei sich. Der Alte geht weiter und nach wenigen Augenblicken findet er das Raptoren-Nest mit vielen Eiern. Die meisten zerschlägt er, weil er den Inhalt einlagern will. Einen Teil der Eier steckt er sich so in die Tasche. Dann geht er weiter.


Der Weg führt steil in die Berge und zwischen Bäumen und abgestürzten Felsen hört Zun ein „Hähhhh?“. Ein Ettin kommt Zun entgegen und beginnt, wild seine Keule zu schwingen, doch als er den Alten erkennt, kniet er nieder und schaut von unten ängstlich den Nekromanten an. Zun hatte vor vielen Jahren seine Eltern getötet, weil sie es gewagt hatten, ihn anzugreifen. Als er dann den Ettin-Jungen fand, belegte er ihn mit einem Fluch und befahl ihm am Ende seiner letzten Reise, als Wächter der tiefen Höhlen zurückzubleiben. Ohne weiter auf ihn zu achten, geht Zun weiter Richtung Höhleneingang, der für einen Außenstehenden nie als solcher zu erkennen gewesen wäre. Drei Zauber liegen auf dem Eingang, um ihn zu schützen. Zum einen ein Verdunkelungszauber. Dieser schirmt die Höhle optisch ab, so dass keiner sie durch bloßes Hinsehen als solche erkennen kann. Dazu kommt ein Rätselzauber, der drei Fragen stellt. Wird eine Frage davon falsch beantwortet, schießen aus drei Richtungen Waffen auf den Eindringling. Zwei davon müssen, um zu wirken, dass Opfer direkt treffen. Die dritte Waffe jedoch verursacht großflächigen Schaden, der so massiv ist, dass der Ettin anschließend nur noch die Überreste einsammeln muss. Der dritte Zauber ist an Zun persönlich gebunden. Die Überlegung des Alten war, sollte ein Gildenmitglied hinter ihm herschleichen, um an seine Schätze zu kommen, so sollte derjenige Eintritt erhalten in die tiefen Höhlen, aber nie wieder herausfinden. Ein Labyrinth von Täuschungen würde ihn gefangen halten, bis er verdurstet, verhungert oder was auch immer sein würde.


Mit einer Handbewegung löscht Zun den Verdunkelungszauber und schreitet weiter vor. Links und rechts am Eingangstor sind Steinhaufen aufgeschichtet und auf jedem der drei Steinhaufen thront ein Schädel. Die Schädel fangen an zu kichern, als sie den Alten sehen. „Werden wir den Meister heute töten?“, fragt der erste. „Wo bleibt denn da der Spaß?“, fragt der zweite Schädel. „Wir sollten ihn eingraben und in Hundert Jahren nachsehen, ob seine Zähne Karies bekommen haben.“ Der dritte Schädel hingegen rührt sich nicht. „Hast du keinen Witz auf Lager?“, fragt Zun daher den Schädel. „In all den Jahren, die ich hier auf dem Steinhaufen sitze, ist das einzige, was mir geblieben ist, Hoffnung.“ – „Hoffnung worauf?“, fragt Zun lauernd. „Hoffnung, dass jemand kommt und dich tötet, damit wir erlöst werden.“ Zun kichert boshaft. „Hoffnung ist etwas sehr Trügerisches. Lange habe ich gehofft, dass die Schmerzen in meinem Bein nie wiederkommen, doch egal, was ich tat, sie kamen wieder. Als die Hoffnung in mir gestorben war, war ich endlich frei. Ohne Gefühle, ohne Gewissen nur dem Ziel verpflichtet. Unsterblichkeit für mich und mein Wille soll Gesetz für alle sein.“ – „Und wie nah bist du deinem Ziel?“, fragt der Schädel. Die Augen von Zun glühen einmal kurz auf, als er sagt: „Du bist der Schädel, ich der Meister. Es wäre gut, wenn du mir jetzt das erste Rätsel nennst, sonst habe ich wenige Kilometer von hier den Schädel eines weiblichen Raptors liegen, der gerne deinen Platz einnimmt.“ Der Schädel verstummt für einen kurzen Augenblick, bevor er sagt: „Das erste ist ein wildes Tier. Das zweite putzt du am Morgen dir. Zusammen ist es gelb und grün, du siehst es auf der Wiese stehen.“ Es dauert eine Weile, bis Zun antwortet. „Löwenzahn.“ Aus den Augenwinkeln des Schädels fließen Tränen, als er sagt: „Du hast recht.“


Dann wendet der Nekromant sich dem zweiten Schädel zu. „Willst auch du erlöst werden?“ – „Ich wünsche dir jede Sekunde den Tod, Zun. Aber noch mehr wünsche ich mir, dass du über mein Rätsel stolperst und ich es sein werde, der die Fallen auslöst, welche dich töten werden.“ – „Schauen wir, ob deine Wünsche erfüllt werden, Schädel“, antwortet der Alte mit einem höhnischen Unterton. „Stell mir dein Rätsel.“ – „Ich suche etwas, das alles und jeden verzehrt: Helm und Panzer, Axt und Schwert, den harten Stein mahlt es zu Staub, macht Gerades krumm und Berge platt.“ Zun kniet vor dem Schädel nieder und schließt die Augen. „Du hast ihn, du hast ihn“, jubelt der dritte Schädel und kichert vor sich hin. Da öffnet Zun die Augen. „Du hast Recht“, spricht der Alte in Richtung des zweiten Schädels. „Die Zeit ist der große Zerstörer. Frage dich selbst, ob deine Zeit heute abgelaufen ist.“ Auch der zweite Schädel fängt an zu weinen.


Als Zun sich dem letzten Schädel zuwendet, kommt sogleich die Frage: „Willst auch du mich zuerst versuchen, der Lächerlichkeit preiszugeben?“ Es dauert einige Augenblicke, bis der Schädel antwortet: „Ich bin müde, Zun. Ich war es schon, als du mich damals getötet und verflucht hast. So kurz war ich davor zu sterben. Vielleicht 10 Sekunden haben mir noch gefehlt. Warum hast du mich davon abgehalten?“ Der Alte kichert böse auf. „Weil ich Spaß daran finde, dir etwas wegzunehmen, was du dir so sehr wünscht. Bedenke, mein größter Wunsch ist auch mir nicht erfüllt worden. Da ist es doch nur fair, wenn du meine Enttäuschung teilst, oder?“ Der Schädel wimmert kurz auf, doch dann fängt sich seine Stimme wieder und er beginnt: „Atemlos und ohne Atemnot, lebt es kalt doch wie der Tod. Trinkt, obwohl es Durst nicht spürt. Trägt einen Panzer, der nicht klirrt.“ Zun schüttelt den Kopf. „Ich bin enttäuscht von dir. Als dritter Schädel, den ich aufrufe, hätte ich von dir das schwerste Rätsel erwartet. Dass du es mir aber so leicht machst, verstehe ich nicht. Die Antwort lautet ‚Fisch‘.“ Auch der dritte Schädel fängt ob der Antwort an zu weinen und als sich alle Tränenflüsse treffen, öffnet sich das Tor und Zun kann endlich in die Tiefen der Höhlen eintreten.



Das Labyrinth, was nun vor ihm liegt, schreckt ihn nicht. Er hat es selber gebaut mit Unterstützung eines Gildenmagier-Mesmers, der die Gänge anschließend verzaubert hat. Der Mesmer lebt noch, aber er kann nichts verraten, denn er existiert nur noch als einer von drei Schädeln auf einem Steinhaufen.

Der Atem von Avalyn geht ruhig und gleichmäßig. Entspannt liegt sie mit ihrem Ei im Bett und nur eine Kerze, die sie vor Müdigkeit vergessen hat auszupusten, spendet flackernd Licht. Gäbe es eine weitere Person im Zimmer, so würde sie ein leises „Tock. Tock.“ hören. Und wieder: „Tock. Tock.“ Langsam streicht eine Hand von Avalyn über das Ei und ihr Gesichtsausdruck verändert sich dabei. Ihr Atem geht schneller. Das Mädchen zieht ihre Beine an, so als ob sie das Ei noch mehr beschützen wollte. Und wieder: „Tock. Tock.“ Die Augen von Avalyn gehen auf und sie weiß sofort: Es ist soweit, Wirbelwind wird bald schlüpfen. Mit einem Satz springt sie aus dem Bett. Das Ei legt sie auf das Oberbett, um dann die Decke so zusammenzuschieben, dass ihr Ei gleichmäßig von allen Seiten gewärmt und geschützt wird. Das Licht der Kerze malt tanzende Schatten auf die Schale und doch kann Avalyn die ersten Risse erkennen. „Tock. Tock.“ Das erste Stück vom Ei fliegt dem Mädchen entgegen. Sie will Wirbelwind helfen und die Eierschale zerstören, doch ein wildes Knurren aus dem Ei sorgt dafür, dass sie ihre Finger ganz schnell wieder zurückzieht. „Tock. Tock.“ Ein weiteres Stück der Eierschale springt ihr entgegen und jetzt endlich sieht Avalyn auch, woher das Geräusch kommt. Jedes Mal, wenn Wirbelwind mit seiner Schnauze gegen die Eierschale stößt, löst er dieses Geräusch aus. „Komm Wirbelwind, du schaffst es“, feuert das Mädchen den kleinen Raptor an. Als ob Wirbelwind sie verstehen würde, stößt er immer wilder und aggressiver gegen die Eierschale und dann ist es soweit. Der junge Raptor stößt ein letztes Mal gegen die Wand, welche ihn festhält, und dann fliegt der obere Teil der Schale im hohen Bogen davon. Avalyn, die immer noch neben dem Bett steht, und Wirbelwind schauen sich gegenseitig an. Eine Sekunde, zwei Sekunden, dann reißt der Raptor sein Maul auf und knurrt das Mädchen an. Erschrocken springt Avalyn ein Stück zurück, doch schon ist der Raptor aus seinem Ei gesprungen und landet direkt neben dem Mädchen. Dann hebt der junge Raptor den Kopf und reibt diesen an Avalyn. „Wirbelwind!“ Das Mädchen ruft seinen Namen und umarmt ihren neuen Freund.


Da wird die Tür zum Zimmer aufgerissen und Mama kommt hineingestürmt. Ein Schrei und schon stürmt sie los. „Lass mein Kind in Ruhe!“ Mit wild fuchtelnden Armen kommt sie heran und Wirbelwind fängt laut an zu knurren. Avalyn spürt, dass Wirbelwind Mama angreifen wird. Kurz entschlossen wirft sie sich mit ihrem Körper auf den Raptor und begräbt ihn unter sich. „Er ist mein Freund!“ Mit einer Stimme voller Angst, Leidenschaft und grenzenlosem Vertrauen ruft Avalyn diesen einen Satz. Mama bleibt schlagartig stehen, als ob sie gegen eine Wand gelaufen wäre. „Komm langsam zurück“, erklingt da die Stimme von Atheus hinter ihr. „Aber, aber …“ – „Kein Aber“, ruft Atheus. „Ich bitte dich, vertrau mir und komm drei Schritte langsam zurück.“ Mama schaut Richtung Atheus und er kann die Panik in ihrem Gesicht sehen. „Der Raptor sieht in Avalyn seine Mama, die er beschützen muss. Eine hektische Bewegung und er wird angreifen.“ Mama schüttelt den Kopf. „Avalyn, seine Mama? Wie kann das sein?“ – „Sieh doch, wie deine Tochter den Raptor beschützt. So wie du Avalyn beschützen möchtest, beschützt sie ihren Raptor.“ – „Es ist ein Monster“, kommt es da mit ohnmächtiger Stimme von Mama. Da hebt ihre Tochter den Kopf und schaut Mama mit von Tränen erfüllten Augen an. „Er ist kein Monster, das ist Wirbelwind!“ Auch Mamas Augen füllen sich in diesem Moment mit Tränen. Sie kann nicht anders. Sie dreht sich um und verlässt das Zimmer. Immer leiser werden ihre Schritte, bis noch das Schlagen einer Tür zu hören ist und dann kehrt für einen Augenblick wieder Ruhe ein.


Atheus schaut sich das Bild noch eine Zeit lang an, bis er fragt: „Ich habe Hunger nach der ganzen Aufregung. Wie schaut es mit euch aus?“ Vorsichtig steht Avalyn auf und streichelt Wirbelwind, der immer noch in der Hocke am Boden sitzt. „Wieso ist Mama böse auf Wirbelwind?“ Atheus geht vorsichtig zwei Schritte näher und kniet sich hin, um mit Wirbelwind und Avalyn auf gleicher Höhe zu sein. „Mama hat Angst um dich, genauso wie du Angst um Wirbelwind hast.“ – „Aber Wirbelwind tut doch keinem etwas“, kommt da sofort die Antwort von Avalyn. Atheus überlegt einige Sekunden, bevor er antwortet. „Raptoren sind Raubtiere. Sie überleben in der Natur dadurch, dass sie andere Tiere töten. Wenn sie auf Menschen treffen, ziehen sie sich meist zurück. Wenn sie sich allerdings angegriffen oder verfolgt fühlen, greifen sie an und so hat es Verstümmelungen und Tote gegeben in der Vergangenheit. Die Menschen sehen sie nur als Monster.“ – „Aber das sind sie nicht!“, ruft Avalyn. „Es gibt Ausnahmen, Avalyn, und vielleicht ist Wirbelwind eine von diesen Ausnahmen, aber bitte verstehe Mama, wenn sie genauso Angst um dich hat wie du um Wirbelwind.“ Avalyn und Wirbelwind schauen sich in die Augen und Atheus bekommt Gänsehaut dabei. Der Gelehrte hat den Eindruck, dass ein Band zwischen den beiden existiert. Er kann es nicht beschreiben, aber er versteht in diesem Augenblick, dass die Götter selbst diese beiden Wesen zusammengebracht haben. Mit dieser Erkenntnis bekommt Atheus plötzlich Angst vor dem, was kommen wird.

Als Zun das Labyrinth betritt, hört er Stimmen von den Wänden. Wer hier ohne Erlaubnis eintritt, soll nicht einfach nur an Hunger oder Durst sterben, nein, er soll mit seiner größten Niederlage konfrontiert werden. Immer und immer wieder soll derjenige daran erinnert werden, wie er versagt hat. Nach all den Jahrzehnten mit diesen Schmerzwellen ist Zun komplett gefühllos geworden. Jede Schmerzwelle hat ihm ein Stück mehr Emotion genommen. So hatte er noch nie Mitleid empfunden, aber Freude am Leid von anderen kannte er sehr wohl. Seine Boshaftigkeit und sein Hang, anderen zu schaden, waren schon früh aufgefallen und seine Lehrer hatten alles getan, um dies noch zu fördern. Die Schmerzwellen jedoch, töteten jede Art von Gefühl. Und trotz allem lassen ihn die Wände des Labyrinths jetzt plötzlich etwas fühlen. WUT!


Du hast versagt, Zun, kommt da mit einem hämischen Lachen. Du bist vielleicht der Weltherrscher einer Schneekugel. Mit jedem höhnischen Satz wird Zun wütender und er versucht mit dem Rest seines Stabes die Stimmen in der Wand zum Schweigen zu bringen. Und wieder versagt er, kommt da sofort der Kommentar. Schritt für Schritt geht der Alte weiter. Ganz hinten in seinem Kopf weiß er: Er muss durch das Labyrinth, damit es aufhört. Doch die Wände wollen ihn nicht loslassen und so holen sie den Moment seiner schlimmsten Niederlage wieder hervor.


Als Zun erwacht, liegt er auf dem Boden. Mit den ersten Blicken erkennt er die große Halle der Gildenmagier, wo sich alle treffen, wenn es etwas Wichtiges zu besprechen gibt. Der Alte liegt genau in der Mitte der Halle, während die anderen Mitglieder sich auf ihren schwebenden Stühlen circa zwei Meter über ihm im Halbkreis verteilen. Langsam kommt die Erinnerung wieder hoch an das, was war, bevor die Schmerzwelle alles hinweggefegt hat. Mühsam zieht Zun sich am Stock hoch, denn auf dem Boden kriechend, dieses Bild wollte er den anderen nicht bieten. Das Gemurmel im Saal nimmt langsam ab und Epetran, ein alter Feuer-Elementarmagier der größten Gilde innerhalb der Vereinigung aller Gilden, ergreift das Wort.


„Zun, vor vielen Jahren bist du zu uns gekommen und wolltest Mitglied werden. Wir haben dir gesagt, du musst Mitglied in einer Gilde sein, um hier einen Platz beanspruchen zu können. Also führte dich dein Weg weiter und nach einiger Zeit, hast du dich der Gilde ‚Schmerz ist die Ursache von Macht‘ angeschlossen. Nachdem du einige Zeit später den Gildenleiter seinen größten Schmerz hast spüren lassen, warst du wieder bei uns und wir haben dir Einlass gewährt. Du hast ein Labor, Räume, einen Diener und Zugriff auf die besten Materialien bekommen. Unsere Maxime lautet: ‚Es gibt keine Grenzen, außer die deines Geistes‘. So soll und muss sich jeder ständig verbessern, wenn er hier Mitglied sein will. Du, Zun, hast dich verbessert. Du hast geforscht, du hast unliebsame Konkurrenten aus dem Weg geräumt. Du hast Material gesammelt und Erfahrungen gemacht. Es gab andere Gilden, die angefragt haben, sich mit dir zu verbünden, doch du hast stets abgelehnt, was dein gutes Recht ist. Doch dann wurdest du gierig, Zun. Du wolltest nicht mehr Macht, du wolltest alle Macht. Dabei hast du vergessen“, und hier wird die Stimme von Epetran lauter und anklagend, „dass wir uns selber Regeln gegeben haben, die wir niemals brechen dürfen. Eine Regel davon lautet: Das Blut eines unschuldigen Kindes darf unter keinen Umständen dazu benutzt werden, die eigene Macht zu vergrößern. Dabei spielt es keine Rolle, von welchem Volk das Kind entspringt. Du, Zun, hast diese Regel ignoriert, um uns alle zu beherrschen. Ein Fehler, ein einziger Fehler ist dir dabei unterlaufen. Als deine klagenden Geister den Zentaurenjungen hereingeschleppt haben, wärst du beinahe entdeckt worden. Durch einen Verhüllungszauber jedoch wart ihr unsichtbar und niemand hat euch bemerkt. Fast niemand, denn der Diener des Elementarmagiers musste noch etwas aus dem Raum seines Herren holen und als du den Verhüllungszauber aufgehoben hast, sah er dich. Neugierig schlich er dir nach und dann kam wenig später dein Diener, den du gerufen hattest. Die beiden unterhielten sich kurz und als er dann wenig später die Schreie seines Freundes hörte, lief er zu seinem Meister und berichtete ihm. Die Gilde des Elementarmagiers informierte mich und zusammen entschieden wir, dich aufzusuchen.“


Die Augen des Alten Zun blitzen auf und er ruft: „Ich war so dicht davor, unsterblich zu werden. Was ist mit dem Zentaurenjungen passiert?“ – „Zeigst du plötzlich Mitgefühl oder glaubst du ernsthaft, du hast noch eine Chance an ihn heranzukommen?“, fragt Epetran mit Unglauben in der Stimme. „Ich will es wissen“, ruft Zun in die Runde. „Wir haben ihn zurückgebracht zu seinen Eltern. Er wird auf immer verändert sein und die Zeit wird zeigen, wie er sich als Unsterblicher entwickelt. Aber nun zu dir, Zun. Dir wird zur Last gelegt, Abaddon, den Gott der Geheimnisse, bestohlen zu haben. Dir wird zur Last gelegt, die Halle der Gildenmagier genutzt zu haben, um dir entgegen der Regeln die Unsterblichkeit zu sichern. Entlastend dazu ist vorzubringen, dass es dein Wille war, so gut zu werden, dass du uns alle beherrschen kannst. Nekromant Zun, wir haben uns beraten und das Urteil lautet Verbannung aus unserer Runde, unserem Kreis und unseren Gilden. Du hast jedes Recht verloren, eine Gilde zu gründen oder ihr beizutreten. Heute Nacht, wenn der Mond den höchsten Punkt am Himmel erreicht, wirst du diese Hallen verlassen und niemals wiederkehren.“


Mit schauerlichen Flüchen beantwortet Zun das Urteil. Nicht ein Wort des Bedauerns oder des Flehens kommt über seine Lippen. Worte, so boshaft, dass die Kerzen im Saal ihr Licht verfinstern, ist das einzige, was der Alte von sich gibt. Als es dann soweit ist und die Magier ihn vor sich her zum Ausgang treiben, schwört er ihnen ein letztes Mal Rache. Er verspricht allen den Tod durch eine Waffe, die etwas Besonderes ist. Mehr verrät er nicht, denn er weiß, wenn er jetzt berichtet, dass er aus der Bibliothek des Abaddon noch ein Rezept gestohlen hat, wird er die Gildenhalle niemals lebend verlassen.


In diesem Moment erreicht Zun das Ende des Labyrinths und mit einem letzten Wehklagen entlassen ihn die Mauern in die tiefen Höhlen.

Nach einem langen, aufregenden Tag sitzt die Familie zusammen mit Atheus bei Tisch für das gemeinsame Abendessen. Wirbelwind ist zu diesem Zeitpunkt im Zimmer von Avalyn verblieben. Nach heftigen Diskussionen sprach der Vater von Avalyn ein Machtwort, dass Wirbelwind nicht mit an den Esstisch kommt. Mama zittert immer noch bei dem Gedanken an den Raptor. Trotz ihrer Angst hatte sie heute ihre Tochter und „das Monster“ beobachtet, wie sie zusammen liefen und sprangen, und mit jedem Augenblick, den sie zuschaute, wuchs die Angst, dass er angriff, aber er tat es nicht. Avalyn lief mit dem Raptor um die Wette, lachte, sie spielten Verstecken und der Raptor fand sie. Und jedes Mal stupste er sie mit seiner Schnauze an, ohne ihr weh zu tun. Sie konnte es nicht begreifen, der Raptor ist und bleibt ein Raubtier!


Als das Essen sich dem Ende nähert, zieht Avalyn sich mit der Erlaubnis ihrer Eltern zurück. „Ich habe Angst vor dem Raptor“, kommt von Avalyns Mutter. Der Vater schaut Atheus an und fragt nach einigen Sekunden: „Du bist ein Gelehrter. Was für einen Rat gibst du uns?“ Es tritt für längere Zeit Stille ein, während der Atheus die Augen geschlossen hält und intensiv nachdenkt. Dann öffnet er die Augen und sagt: „Eure Tochter ist etwas Besonderes. Von den Göttern für eine Aufgabe ausersehen, die ich nicht kenne und die ich wahrscheinlich auch nicht begreifen werde. Avalyn und der Raptor gehören zusammen, die Götter haben beide zusammengeführt und es gibt nur ein Ort, wo wir Antworten bekommen werden auf unsere Fragen. In wenigen Tagen beginnt das Fest der Lyss im Garten von Seborhin. Dort, und nur dort, werden wir Antworten auf die Fragen bekommen.“ Die Augen von Avalyns Mutter werden groß. „Die Götter selbst?“, haucht sie. Atheus nickt nur und der Vater von Avalyn vergräbt sein Gesicht in den Händen. Leise und undeutlich hört man sein Flüstern. „Ich habe immer gewusst, dass meine Kleine etwas Besonderes ist. Ihr Götter, bitte beschützt sie bei ihrer Aufgabe.“ Dann nimmt der Vater die Hände von seinem Gesicht und schaut Atheus an. „So ist es beschlossene Sache. Avalyn, der Raptor und du, ihr beginnt morgen eure Reise nach Vaabi zum Garten von Seborhin. Bitte bringe uns die Antwort, was die Götter mit unserer Tochter vorhaben.“ Traurig schaut Atheus den Vater des Mädchens an. „Selbst wenn mir die Götter antworten, weiß ich nicht, ob ich ihre Antwort verstehen werde.“ Mit diesen Worten steht er auf und geht zu Avalyn. Er ist gespannt darauf zu sehen, wie das Mädchen auf die geplante Reise reagiert.


Die Treppen hoch, ein Stück nach links, dann steht Atheus vor dem Zimmer von Avalyn. Vorsichtig klopft er an, doch er bekommt keine Antwort. Langsam drückt er die Tür auf und schon nach wenigen Sekunden sieht er, warum Avalyn nicht geantwortet hat. Der Raptor hat sich hingelegt und Avalyn liegt an seinen Bauch angekuschelt und beide schlafen. Für einen Moment geht bei Wirbelwind ein Auge auf. Da er Atheus aber nicht als Feind einschätzt, schließt sich das Auge wieder und er schläft einfach weiter. Mit diesem Bild vor Augen entschließt sich Atheus, in sein Zimmer zurückzukehren. Die Überraschung kann auch bis morgen warten.


Als die Sonne zwischen den Bergen erwacht, klopft Atheus wieder an die Tür von Avalyn. Diesmal kommt die Bitte einzutreten sofort. Avalyn sitzt noch auf ihrem Bett und Wirbelwind liegt zu ihren Füßen ganz entspannt. „Guten Morgen ihr zwei“, ruft Atheus, als er das Zimmer betritt. Avalyn strahlt ihn an und ihre roten Haare fliegen wild hin und her, als sie aufgeregt ihren Kopf schüttelt und fragt: „Wann geht es los?“ Atheus ist überrascht. „Wie, was?“, fragt er verwirrt. „Atheus, ich mag dich sehr“, kommt da von Avalyn, „aber für einen Gelehrten denkst du manchmal sehr langsam.“ So langsam dämmert ihm, dass Avalyn das Gespräch gestern Abend belauscht hat. „Und, hast du keine Angst?“, will Atheus wissen. „Nein. Solange ich Wirbelwind habe, der mich beschützt, kann mir nichts passieren.“ Dem konnte Atheus nur zustimmen. „Wie sieht es mit Frühstück aus?“ fragt der Gelehrte. „Wirbelwind und ich haben schon gefrühstückt, aber wenn du noch möchtest, wir warten auf dich.“ Dieses spitzbübische Grinsen auf ihrem Gesicht, das sich in Momenten wie diesem zeigt, erinnert Atheus sehr an Avalyns Mutter. Als sie im Alter ihrer Tochter war, machte sie oft das gleiche Gesicht, wenn ihr etwas besonders gut gelungen war. „Dann lass uns keine Zeit verlieren. Wir können heute Abend schon in Vaabi sein, um morgen auf dem Fest der Lyss zu erscheinen. Ich habe einen Freund, der uns Einlass gewähren wird.“ Mit einem Sprung kommt Wirbelwind hoch und wie ein Schatten, der durch das Licht der Sonne bewegt wird, verschwinden Avalyn und Wirbelwind nach unten. Zurück lassen sie einen langsamen und verwirrt dreinblickenden Atheus.

Ihre Reise verläuft in Richtung Norden. Die Sonne erwacht wenig später in den Bergen und beginnt schnell erbarmungslos auf sie herab zu brennen. An einer Weggabelung halten die drei kurz an. Links führt der Weg weiter hoch in die Bergkette, die in das Ödland führt. Halb rechts geht der Weg weiter in Richtung Vaabi. „Warst du schon mal im Ödland?“, fragt Avalyn. Atheus schüttelt den Kopf. „Ich würde gerne einmal in das Ödland reisen, um die Junundu-Würmer zu studieren. Es gibt Schriftrollen, die besagen, wenn man die Königin der Junundus in einem offenen und ehrlichen Kampf besiegt, erlaubt sie einem, in den Würmern zu reiten und so unbeschadet durch die Schwefel-Einöde zu kommen.“ – „Bähhhh, von einem Wurm verschluckt zu werden?“, kommt da von Avalyn. „Das ist ja eklig!“ Gleichzeitig schleudert Wirbelwind seine Schnauze hin und her, als wollte er die Worte des Mädchens so unterstreichen.


Die drei laufen weiter den rechten Weg entlang. Am späten Vormittag erreichen sie den Fluss Elon und Atheus entscheidet, dass es Zeit ist für eine erste kurze Rast. Die beiden essen etwas und erfrischen sich ausführlich im kühlen Fluss. Wirbelwind verschwindet eine Zeitlang und als Atheus bei Avalyn nachfragt, sagt diese, er sei frühstücken gegangen und komme gleich wieder. Die Rast geht zu Ende und der Weg nach Norden geht weiter.


Gegen Nachmittag erreichen sie den Basar von Kodash. Die Reise verlief bisher ruhig, doch als sie am Stadtrand von Kodash auftauchen, kommen immer mehr Menschen dazu, welche den gleichen Weg haben. Avalyn bemerkt sehr schnell, dass um sie herum sehr viel Platz gelassen wird. Als ob sie eine ansteckende Krankheit hätte, halten die Menschen Abstand. Neugierig läuft sie ohne Vorwarnung auf einige ältere Menschen zu. Die drei erschrecken sich und reißen ihre Stöcke hoch. Wirbelwind ist wie ein Schatten, der den Alten ihre Stöcke aus den Händen reißt und mit seinen Zähnen zermalmt. „Was habt ihr?“, fragt Avalyn verwirrt. „Warum meidet ihr uns? Ich bin nicht krank, wenn ihr das glaubt.“ Die drei schauen auf den Boden und zittern und es dauert eine Weile, bis einer den Arm hochnimmt und mit dem Finger zitternd auf Wirbelwind zeigt. Ungläubig schaut Avalyn auf den Finger und auf Wirbelwind. „Ihr habt Angst vor Wirbelwind?“, fragt sie mit überraschter Stimme. „Aber er ist doch mein Freund!“ – „Du hast ein Monster zum Freund“, kommt da die zitternde Stimme von einem. „Wirbelwind ist kein Monster“, sagt Avalyn trotzig, „und ihr seid blöd! Komm Wirbelwind, wir gehen!“ Atheus, der die Situation genau beobachtet hat, nimmt Avalyn an die Hand. „Was die Menschen nicht kennen, fürchten sie“, meint er. „Ein Grund, warum ich Gelehrter geworden bin, ist, dass ich möchte, dass die Menschen weniger Angst haben.“ – „Aber es ist dumm, alles zu fürchten, was man nicht kennt.“ – „Nein, Avalyn, Angst zu haben hilft uns, Gefahren richtig einzuschätzen. Der Raptor ist ein Raubtier und du weißt, es gibt Fälle, wo er Menschen angegriffen hat.“ – „Aber das war nicht Wirbelwind!“ – „Die Menschen wissen nicht, dass Wirbelwind ein guter Raptor ist. Also haben sie Angst vor ihm.“ Avalyn schaut Atheus traurig an. „Bitte, lass uns weitergehen, hier gefällt es mir nicht.“ Atheus stimmt durch ein Nicken zu und so lassen die drei den Basar von Kodash hinter sich und wandern weiter.


Die Füße von Avalyn bemerken es wenig später als erstes. Der Boden ist sehr trocken hier. Kaum Wasser. „Die Bauern müssen es hier schwer haben.“ Atheus nickt. „Die Trockenheit nimmt zu. Als ich das letzte Mal vor fünf Jahren hier war, gab es noch einige Sümpfe, aber selbst diese sind mittlerweile verschwunden. Vieles wird von Kodash aus in Richtung Norden transportiert. Während der Süden von Vaabi durch den Elon ausreichend mit Wasser versorgt wird, müssen die Bauern im Norden dem Boden mühsam jede Ernte abringen. Das Leben ist hart, aber die Leute haben sich dran gewöhnt und beklagen sich nicht.“


Die Sonne geht schon unter, als in einiger Entfernung die hohen Mauern des Gartens von Seborhin ihre Silhouetten in Richtung des Himmels zeigen. „Bald wirst du Kehtu kennenlernen, er ist ein Priester der sechs Götter, ein sehr guter Freund von mir und unsere Eintrittskarte für das Fest der Lyss morgen.“ – „Wie habt ihr euch kennengelernt?“, möchte Avalyn gerne wissen. „Ich war auf einer Wanderung, als ich abends müde und hungrig ein Lager suchte. Auf einer Bergspitze sah ich ein Licht und so beschloss ich, den Weg hochzulaufen. Oben angekommen sah ich einen Menschen, der vor dem Feuer saß und sich nicht rührte. Ich sagte: „Hallo“, stellte mich vor und fragte, ob ich mich an das Feuer setzen dürfe. Ich bekam keine Antwort. Da sah ich einen Skorpion den Arm des Mannes hochkrabbeln. Vorsichtig nahm ich meinen Stock und strich etwas Leinsamenöl drauf. Dann hielt ich den Stock an den Arm des Mannes und der Skorpion nahm das Angebot tatsächlich an.“ – „Er kletterte auf den Stock und so rettete er mein Leben.“


Der letzte Satz kam plötzlich von rechts hinter einem Busch her. „Atheus!“ – „Kehtu!“ Wild lachend fallen sich beide Freunde in die Arme und es dauert eine Weile, bis die beiden voneinander ablassen. „Wen hast du mitgebracht?“, fragt Kethu. „Das ist Avalyn, ein ganz besonderes Mädchen aus meiner Heimat, zusammen mit ihrem treuen Freund, dem Raptor Wirbelwind.“ Kehtu schaut zu Avalyn und seine Augen werden groß. Er fängt an zu zittern und geht in die Knie. „Aschafra Mahal! Du bist die Auserwählte der Götter, du bist der Tag, der sich mit der Finsternis vereint, du bist das Gegenstück zur Nacht. Die Götter haben dich auserwählt, um das Gleichgewicht wiederherzustellen.“

Eine gewaltige Höhle liegt vor Zun. Es funkelt, knistert und blitzt an verschiedenen Stellen. In Regalen liegen Steine, große Phiolen mit Flüssigkeiten und an manchen Stellen sieht man Wolken herumschweben, die sich zusammenziehen, nur um dann wieder schlagartig auseinander zu wehen. Diese Eindrücke allein verwirren jeden gesunden Geist, doch der alte Zun sieht die Ordnung in all dem. Es beginnt mit dem, was das Leben beendet. Metalle, die Leiber durchstoßen und durch rohe Gewalt töten. Je höherwertiger das Metall, desto besser kann jede Art von Panzerung durchdrungen werden, und Zun will nur das Beste, denn das Rezept verlangt ohne Ausnahme nur nach dem Besten. So öffnet er seinen Beutel und nimmt, was das Rezept befiehlt. Sein Weg geht weiter nach rechts in den Bereich der Edelsteine. Jeder für sich ist mächtig, aber für Zun und das Rezept nicht mächtig genug. Er muss später einen Saphir, einen Smaragd, einen Rubin und einen schwarzen Diamanten verschmelzen, um daraus einen flüssigen Elixier-Edelstein herzustellen. Auch die Edelsteine landen im Beutel vom Zun, als er schlurfend den nächsten Teil der Höhle aufsucht. Der Griff vom Dolch besteht im Kern aus antikem Holz. Doch wird der Kern des Griffes mit fünf Elixier-Edelsteinen verschmolzen, damit er sich jederzeit an die Hand des Benutzers anpassen kann. Aber nicht jede Hand soll diesen Dolch führen können. Nein! Zun will die Möglichkeit des Rezeptes nutzten, den Dolch auf seine Hand zu prägen. So geht er in das Regal, wo er schreiende Iboga gefangen hält. Die Pflanzen schnappen sofort nach dem Alten, doch dieser weiß sich zu schützen. Der Schatten einer Sichel blitzt auf und schon fallen die schreienden Köpfe der Pflanzen in seinen Sack. Zun hat den Hinweis aus dem Rezept noch genau im Kopf. Bei der Herstellung kann Seelenbinder zu einem seelengebundenen Dolch geschmiedet werden. Dazu ist es notwendig, die schreienden Köpfe der Iboga mit dem antiken Holz zu verbinden. Wenn anschließend die Elixier-Edelsteine mit dem Dolchgriff verschmolzen werden, wird nur der echte Besitzer den Dolch in die Hand nehmen können. Sollte es dennoch ein Fremder wagen, werden die schreienden Iboga ihm sofort die Hand abbeißen.


Der Weg von Zun geht weiter. Das Ektoplasma von Verstorbenen ist sein nächstes Ziel. Im Moment des Todes, wenn sich die Seele vom Körper löst und den Weg zu Grenth sucht, fängt Zun diese ab. Er sperrt sie in eine magische Karaffe und bietet ihr ein Geschäft an. Er will fünfzig Tränen der Hoffnungslosigkeit, danach darf die Seele die Karaffe verlassen und in das Reich von Grenth entschwinden. Die meisten Seelen rebellieren eine Zeitlang, doch der Wunsch, mit dem oder der Liebsten im Reich von Grenth wiedervereint zu werden, sorgt dafür, dass Zun sein besonderes Ektoplasma bekommt. In einem aufwendigen Verfahren verwandelt er dieses in Kugeln und genau von diesen Kugeln benötigt er nun alle, die er in der Vergangenheit eingelagert hat. Ein letztes Mal schaut Zun sich um und vergleicht den Inhalt seines Beutels mit dem Rezept. Es passt, alles andere hat er in seiner Hütte. Das Greifenblut, die Knochen eines Raptors, zehn gestohlene Totems vom heiligen Friedhof der Jotun. Nein, hier hält ihn nichts mehr.


Der Weg zurück ist kurz und ungefährlich, weil die Sicherungsmaßnahmen nur in einer Richtung wirken. Es ist dunkel, als Zun wieder den Eingang erreicht und von den Schädeln begrüßt wird. „Haben deine Fallen wieder mal versagt?“, fragt der eine Schädel. „Muss ja wohl“, antwortet der andere Schädel, „denn sonst wäre er ja tot.“ Der dritte Schädel kichert nur und doch spürt Zun in ihren Worten die Hoffnungslosigkeit – und das wiederum findet er gut.

Auf dem Weg nach Hause schaut Zun in den Himmel und erstarrt: Vollmond! Er hat zu viel Zeit in der Höhle verbracht. Wenn der Mond die höchste Stelle erreicht hat, kann Abaddon seine Margoniter durch ein magisches Tor in die reale Welt schicken. Sie werden direkt zu ihm kommen, um ihn für den Diebstahl des Rezepts zu bestrafen. So schnell es geht, läuft Zun zurück zu seiner Hütte. Es beginnt zu regnen und einige dunkle Wolken schieben sich vor den Vollmond. Dies wird die Margoniter hoffentlich lang genug aufhalten, denkt Zun bei sich. Bei jedem Schritt zischt es auf dem nassen Boden. Jeder Tropfen Wasser, der den Körper von Zun berührt, wird wieder zu Säure. Die Schmerzen in seinem Bein fangen wieder von vorn an. Nein! Nicht jetzt! Wie ein waidwundes Tier läuft Zun über die Felder. Da! Seine Hütte ist in Sichtweite. Kurz schaut Zun nach oben. Der Mond schiebt sich ein Stück zwischen den Wolken hervor und Zun sieht mit Sensen bewaffnete Margoniter, welche sich an den Strahlen des Mondes entlangbewegen. Noch blockieren die Wolken den Durchgang. Vielleicht zwei Stunden bleiben Zun, um den Dolch herzustellen. Sein Hass und sein Wunsch nach Rache treiben ihn weiter, doch auch die nächste Schmerzwelle lauert im Hintergrund.

Avalyn schaut zu Kehtu und dann zu Atheus. „Dein Freund ist lustig, aber ich glaube, er hat zu viel Wein getrunken“, meint Avalyn. Atheus schaut Kehtu, der immer noch am Boden kniet, verwundert an. „Wovon sprichst du, Freund?“, will der Gelehrte wissen. Langsam schaut Kehtu auf. Sein Blick geht erst zu Avalyn und dann nach einer Weile zu Atheus. „Bitte verzeiht mir, aber“, hier stockt ihm für einen Moment der Atem, „es ist so unglaublich für mich, dass die alte Legende wirklich wahr ist.“ Atheus geht auf Kehtu zu, hebt ihn hoch und blickt fest in seine Augen. „Kehtu! Sprich! Welche Legende wird wahr werden?“ Doch Kehtu schüttelt den Kopf: „Bitte, seid meine Gäste. Im Tempel der sechs Götter haben wir Quartiere für Reisende. Wenn wir dort sind, werde ich euch im Kreis unserer Brüder und Schwestern von der Legende erzählen.“


Die Mauern des Garten von Seborhin schimmern in der Abendsonne und zusammen mit den Blumen und Zeichnungen an den Wänden sieht alles wie ein Kunstwerk aus, so schön und kraftvoll, wie es die Göttin Lyssa erwarten kann. Avalyn kann sich nicht sattsehen und so bleibt sie an jeder Mauer stehen und betrachtet diese ganz genau. Atheus ist unruhig und versucht, Avalyn weiterzuziehen, doch Kehtu nimmt sich alle Zeit der Welt, um ihr alles zu erklären. So dauert es für Atheus gefühlt Stunden, bis sie endlich am Quartier der sechs Götter ankommen. Die Aufregung ist groß unter den Priestern. Jeder will Avalyn sehen, sie anfassen, mit ihr sprechen. Gleichzeitig haben alle gewaltigen Respekt vor dem Raptor. „Bitte kommt in die große Halle“, meint Kehtu. Dort stehen Essen und Getränke bereit und dort werde ich euch die Legende von Aschafra Mahal erzählen.


Kehtu hat nicht übertrieben. Die Halle ist sehr groß und während Avalyn, Wirbelwind und Atheus in der Mitte der Halle am Tisch sitzen, hören alle um sie herum leise zu, was Kehtu zu berichten hat: „Es gibt ein Buch der Götter, das Abaddon uns gegeben hat. Sein Diener meinte vor einigen Jahren zu uns, sein Herr verwalte die Geheimnisse aller Menschen und die der Götter. Ein Geheimnis jedoch, welches Abaddon genauso wie die anderen Götter betrifft, will er mit uns teilen. So brannte er in das Buch die Legende von Aschafra Mahal ein. Der Diener von Abaddon meinte beim Abschied zu uns: ‚Ihr werdet wissen, wenn es so weit ist. Erzählt der Auserwählten von der Legende, von dem Geheimnis der Götter. Was dann passiert, könnt ihr nicht ändern. Nur die Auserwählte allein kann ihr Schicksal entscheiden.‘ Dann schwebte er hoch zum Vollmond und verschwand in diesem.“


Mit einem Stück Hähnchen zwischen den Zähnen fragt Avalyn: „Was ist das denn jetzt für eine Legende?“ Und so beginnt Kehtu zu erzählen und die Spannung in der Halle nimmt noch einmal zu. „Abaddon residiert in einer Bibliothek. Ein Bauwerk, so hoch, dass das Auge kein Ende zu sehen vermag. Kein Vogel kann so hoch fliegen und kein Mensch wird alt genug, um die Spitze zu erklimmen. Dies ist die Bibliothek von Abaddon, dem Gott der Geheimnisse. Jedes Geheimnis, egal von wem – Gott oder Mensch –, wird hier aufbewahrt. Doch auch Abaddon braucht Hilfe, um alle Geheimnisse zu verwalten. So erwählte er einst das Volk der Margoniter. Ein einfaches Seefahrervolk, das sich das Ziel gesetzt hatte aufzusteigen, um sich als körperlose Wesen geistig weiterzuentwickeln. Der Versuch scheiterte, doch Abaddon hörte den Ruf seiner Anhänger und er spürte die Loyalität in ihren Herzen, die allein ihm galt. Ihm wollten sie dienen. So nahm er sie in seinem Reich auf und schenkte ihnen die Magie. Während der Gott der Geheimnisse in der obersten Etage seiner Bibliothek über alles wacht, kontrollieren seine Margoniter alle Eingänge zur Bibliothek. Ab und zu werden die Eingänge geöffnet, um Waren und Material in die Bibliothek zu bringen, die dringend benötigt werden.


Kurz bevor es wieder einmal soweit war, ereilte Fürst Jadoth, den ersten Margoniter unter Abaddon, der Ruf seines Herren. Fürst Jadoth schwebte stundenlang nach oben, als ihn eine Klaue seines Herrn von oben kommend packte und mit rasender Geschwindigkeit hochzog. Als der Zug nach oben endete, wagte Fürst Jadoth nicht, in die Tausend Augen seines Herren zu schauen, und wartete deshalb demütig, was sein Herr von ihm verlangte. ‚Die Tore werden sich bald öffnen und Besuch wird kommen. Einer von denen, die mich besuchen, trägt trügerische Absichten mit sich herum.‘ – ‚Wir werden ihn finden und vernichten‘, kam der kurze Kommentar von Fürst Jadoth. Um Abaddon herum loderten Flammen auf. ‚Schweig!‘, peitschte der Befehl dem Margoniter entgegen. ‚Ich werde den Besucher für euch kenntlich machen. Ihr lasst ihn gewähren bei allem, was er tut. Ihr greift nicht ein!‘ – ‚Ich habe verstanden‘, kam es wieder kurz von Fürst Jadoth zurück. ‚Dieser Mensch hat viel dafür getan, sich zu verändern, um unerkannt zu mir zu kommen. Sinnlos, aber die Art, wie er versucht sich hier herein zu schleichen, um mir meine Geheimnisse zu entreißen, werde ich an anderer Stelle nutzten. Er soll mein Werkzeug sein, um verschiedene Sachen in der Welt anzustoßen, welche die anderen Götter in ihrer Arroganz nicht zulassen wollen.‘ Nach diesen Worten ließ Abaddon Fürst Jadoth einfach fallen und erst nach zwei Tagen des freien Falls kam der Margoniter wieder auf dem Boden der Bibliothek an. Er gab seine Befehle und als die Eingänge geöffnet wurden schaute jeder Margoniter auf die Besucher, um das Zeichen des Abaddon zu entdecken.


Am Abend des ersten Tages, so erzählt es die Legende weiter, nachdem die Tore geöffnet wurden, kam ein alter Mann mit schlohweißen Haaren an das Tor der Bibliothek. Der Alte sah zwei Margoniter-Schnitter, welche das Tor bewachten, und einen Margoniter-Seher, der alle Besucher nach dem Grund ihres Besuches in der Bibliothek des Abaddon fragte. Als der Alte an der Reihe war, sagt er: ‚Traumreiter sind mir erschienen und haben mir von einem großen Schicksal berichtet. Doch um mein Schicksal zu erfüllen, muss ich zwei Bücher in der Bibliothek finden, lesen und verstehen.‘ Der Seher schwebte um den Alten herum, der scheinbar in aller Ruhe stehen blieb. Die Prüfung fiel negativ aus und so wollte der Margoniter den Alten grade wegschicken, als er am Unterarm das Zeichen des Abaddon entdeckte. Eine Maske mit vielen Augenschlitzen und Tentakeln. Ohne etwas zu sagen, zeigte er mit dem Stab auf den Eingang und der Alte ging vorwärts. Ein kurzer Blick der Erleichterung und schon war das Gesicht des Alten wieder emotionslos.


Im ersten Augenblick fühlte sich Zun wie erschlagen, als er die Bibliothek betrat. Goldene Stufen, die wie Wendeltreppen in verschiedene Etagen der Bibliothek führten. Überall Regale, die teilweise frei in der Luft schwebten und von Margonitern verschoben wurden. Und Millionen von Büchern, nein Milliarden, nein auch diese Zahl reichte nicht. Für einen kurzen Moment machte sich in Zun Hoffnungslosigkeit breit. Wie sollte er genau die zwei Bücher, die ihn interessierten, hier finden? Doch dann erinnerte er sich wieder an den alten Margoniter, den er auf seiner Reise getroffen hatte. Durch ihn hatte er von den zwei Büchern erfahren, wegen welcher er jetzt hier war: das Buch der Unsterblichkeit und das Rezept des legendären Dolches Seelenbinder. Das war der Tag gewesen, der sein Leben verändern sollte und eine Gier freigesetzt hatte, die alles hinwegspülte, was vielleicht noch an Moral in Zun vorhanden gewesen war.“

Kehtu führt seinen Bericht über die Legende von Aschafra Mahal fort: „Zun war auf dem Weg nach Kamadan gewesen, dem Juwel von Istan. Er hatte viel von zwei anderen Kontinenten gehört, die die Namen ‚Tyria‘ und ‚Cantha‘ trugen. Schätze und Reichtum hatten ihn dabei nicht interessiert. Er hatte von einer neuen Art der Magie gehört, den Ritualisten und ihren Geistern. Mächtiger als Illusionen sollten mehrere von ihnen ganze Gegnergruppen vernichten können. Zun hatte von einer Armee aus Untoten zu seiner Rechten geträumt, die er als Nekromant heraufbeschwören würde. Zu seiner Linken sollte seine Geisterarmee erscheinen.


So hatte Zun vor sich hingeträumt, bis er Fahranur, die erste Stadt, erreichte und ein zischendes Geräusch ihn aufschrecken lies. Der Nekromant ging in die Verteidigungsstellung und zeichnete mit seinem Stab die ersten Zeichen in den Boden. Ein Knistern war kurz zu hören gewesen und verbrannte Erde zeigte das Wirken an. Der Brunnen des Blutes war gesetzt. Dann griff Zun mit seinen Kräften in den Boden, um nach Leichen zu suchen, die er benötigte, um sie per nekrotischem Zauber auferstehen zu lassen. Er fühlte einige in seiner näheren Umgebung, aber diese waren schon einmal belebt worden und trugen eine Art Herrschaftssiegel. Zun war sich nicht sicher, ob er die Leichen tatsächlich beherrschen konnte, wenn er versuchte, sie zu seinen Dienern zu machen. Nein, die Gefahr war zu groß. So entschied er sich, seinen Stab zu aktivieren. Diese Waffe war von seinem ehemaligen Träger mit vier Schädeln verziert worden. Jeder dieser Schädel stand dabei für ein Attribut der Nekromantie: Die Blutmagie, die Todesmagie, die Seelensammlung und die Flüche. Einer der Schädel erwachte zum Leben und grün-flammende Augen erfüllten die Schädelhöhle. Dazu kamen aus dem Mund des Schädels schrille Worte, die allein beim Zuhören jedem normalsterblichen Menschen Schmerzen bereitet hätten.


Vorsichtig ging Zun weiter. Hinter einem Busch versteckt drückte er ein paar Zweige beiseite, um so sehen zu können, was los war. Die Überraschung zeigte sich deutlich auf seinem Gesicht, als er die Situation erfasste. Ein Margoniter-Kleriker lag auf dem Boden. Halb bedeckt von einem Felsen wurde er von mindestens sechs beißenden Ibogas umringt. Seine Heilfähigkeiten hielten ihn am Leben, aber durch die ständigen Attacken konnte er die Ibogas nicht töten. ‚Bei Abaddons Gunst, bitte hilf mir!‘, rief der Margoniter in die Richtung von Zun. Zun war verwundert, dass er ihn bemerkt hatte. ‚Was habe ich davon?‘, rief er als Antwort. Im gleichen Augenblick wurde ihm sein Fehler klar. Die Ibogas bemerkten ihn und teilten sich auf. Drei kamen auf ihn zugekrochen und Zun aktivierte sein Stab. Einen Fluch nach dem anderen ließ er auf die Ibogas los. Die Pflanzen schrien und begannen, sich braun zu verfärben. Immer wieder versuchten sie mit ihren Angriffen Zun zu treffen, doch dieser wich geschickt aus. Als die dritte Iboga verwelkte, griffen die anderen verstärkt den Margoniter an. ‚Bitte hilf mir‘, rief der Margoniter noch einmal. ‚Warum?‘, wollte Zun wissen. ‚Weil ich dir zwei Geheimnisse des Abaddons offenbaren kann, die kein Mensch kennt.‘ – ‚Und welche sollen das sein?‘, fragte Zun zurück. ‚Das Geheimnis des ewigen Lebens und das Rezept zu Seelenbinder, dem legendären Dolch.‘ Innerlich zuckte der Alte zusammen. Das ewige Leben! Mächtiger als alle anderen sein. Die Herrschaft zuerst in Elona an sich reißen, dann weiter über Cantha bis Tyria. Gänsehaut lief über seinen ganzen Körper. ‚Wenn ich dich jetzt rette, wer sagt mir, dass du mich nicht betrügst?‘ – ‚Ich, Zakir, Margoniter-Kleriker des Abaddon, schwöre bei dem einzig wahren Gott, dass ich dich nicht betrügen werde.‘ Zun wusste aus der Gilde der Magier, dass Margoniter den Namen ihres Gottes niemals missbrauchen würden. Von daher musste er die Wahrheit gesprochen haben. Der Alte nahm seinen Stab und den Schädel der Flüche, atmete einmal heftig aus, ein grüner Dunst wehte auf die erste Iboga zu und hüllte sie sein. Durch die Schreie der Pflanze griffen die beiden anderen Ibogas noch heftiger an, aber es dauerte nicht mehr lange, bis auch sie am Boden lagen. Das grüne Leuchten in den Augen des Schädels verschwand und Zun ging näher an den Margoniter heran.


Jetzt konnte Zun endlich sehen, was passiert war. Ein Felsen war den Berg heruntergerollt und der Margoniter hatte ihn nicht kommen sehen. So war er halb unter dem Felsen begraben worden. Als Heiler konnte er sich selber bei seinen Verletzungen helfen, aber Zakir bekam den Felsen nicht selbst angehoben. Der Alte überlegte fieberhaft, was er machen könnte. Er traute dem Margoniter nicht. ‚Ich überlege, wie ich den Felsen von dir herunter bekomme‘, meinte Zun. ‚Willst du mir in der Zwischenzeit von den beiden Geheimnissen erzählen?‘ – ‚Du hast mir geholfen‘, kam da von dem Margoniter. ‚Ich denke, du hast es verdient.‘ Und während der Margoniter zu erzählen begann, saugte Zun jedes seiner Worte wie ein Schwamm auf. Wie er in die Bibliothek des Abaddons käme und wo die Bücher versteckt seien. Ganz besonders aufmerksam war Zun bei der Erzählung, welche Fallen ihn erwarteten. Es wurde bereits dunkel, als der Margoniter aufhörte zu erzählen. ‚Weißt du nun, wie du den Felsen von mir weg bekommst?‘, fragt der Margoniter. Zun schaut ihn an und schüttelt den Kopf. ‚Das brauche ich nicht herauszufinden. Genau über dir sind weitere Felsen. Ich werde jetzt hochgehen und einen Felsen anstupsen. Die ausgelöste Lawine wird dich von deinem Leid erlösen.‘ Der Margoniter flehte, bettelte um Gnade, doch Zun machte sich auf den Weg nach oben und beachtete ihn nicht weiter. Als der erste Stein wenig später rollte und die Lawine in Gang setzte, schaute Zun dem Geschehen von oben zu. Als der Staub sich gelegt hatte, schüttelte er einfach nur den Kopf und murmelte: ‚Leichtgläubiger Narr.‘


In den folgenden Tagen legte Zun sich einen Plan zurecht, was alles in welcher Reihenfolge passieren musste. Er konnte nicht einfach in die Bibliothek spazieren und die Bücher klauen. Er musste vorbereitet sein. Vorbereitet an Körper und Geist, und so begann er in den folgenden Wochen mit Experimenten an seinem Körper. Er musste besser werden als die Margoniter. Er musste sie täuschen und er musste Abaddon täuschen, den Gott der Geheimnisse … Damit endet die Legende“, berichtet Kehtu. „Und? Hat Zun beide Bücher nun bekommen?“, fragt Avalyn ganz aufgeregt. Kehtu nickt und meint: „Der Diener des Abaddon erzählte uns weiter, die Unsterblichkeit werde verschenkt werden, aber nicht an Zun, sondern an jemanden, den Abaddon für geeignet halte.“ – „Und der Dolch?“, fragt Atheus. Da schaut Kehtu Avalyn an und sagt: „Die Legende wird hier zur Prophezeiung, die da lautet: Der Dolch wird gebaut werden, aber die Umstände seiner Entstehung beschwören eine Katastrophe herauf und nur Avalyn kann uns retten.“ Es dauert einige Sekunden, bis Avalyn und Atheus geräuschvoll ausatmen. „Warum ich?“, fragt Avalyn. „Was habe ich damit zu tun? Und vor allem: Woher weißt du, dass genau ich es bin, um die es geht?“ – „Ja, siehst du es denn nicht?“, fragt Kehtu ganz verwundert. „Nein, was soll ich sehen?“ – „Du trägst das Zeichen des Abaddon unter deinen Füßen.“ Verwundert hebt Avalyn ihren rechten Fuß an und da sieht sie es selbst: Eine Maske aus tausend Augen und Tentakeln, die sich bewegen.

Die Tür fällt ins Schloss und mit einer Handbewegung entzünden sich sieben schwarze Kerzen in der Hütte des Alten und spenden ein dunkles, unheilvolles Licht. Durch eine weitere Bewegung mit der rechten Hand und zwei quietschende Laute belebt Zun einige tote Kadaver, die bei ihm herumliegen und befiehlt ihnen, die Sachen, die er mitgebracht hat, auf die vorgesehenen Plätze zu verteilen. Instinktiv hat Zun geahnt, dass ihm wenig Zeit bleiben würde, um den Dolch zu bauen. So sind die Tische mit Zeichen versehen, um den Vorgang soweit wie möglich zu beschleunigen. An der Wand flattern noch das Rezept und der Bauplan zu Seelenbinder. Der Alte geht schwerfällig zum ersten Tisch, atmet nochmals tief ein und dann beginnt es.


Zun zieht den Stopfen von einer Vase und ein mächtiger und vor allem tobender Feuer-Dschinn kommt heraus. Klagende Geister halten ihn auf einer Position schwebend über dem ersten Tisch gefangen. Ständig muss Zun neue Geister beschwören, weil der Dschinn einen nach dem anderen verbrennt. Dass der Dschinn damit Zun hilft, weiß er nicht. Mit jedem Angriff wird es in dem von den Geistern gehaltenen Feld heißer und so tobt der Feuer-Dschinn immer heftiger. Da! Die Luft selbst verflüssigt sich, das ist das Startzeichen. Zun beginnt, die Metalle, die benötigt werden, in das Feld zu schmeißen. Da merkt der Feuer-Dschinn, dass er nicht nur gefangen ist sondern auch missbraucht wird. Dies heizt seine Wut nur noch mehr an. Der Alte grinst sadistisch vor sich hin, als er die Erkenntnis beim Dschinn bemerkt. „Ja, so dienst du mir richtig“, murmelt der Alte vor sich hin. Der Dschinn gerät immer mehr in Rage und verbrennt sich bei seiner letzten großen Attacke selbst zu Asche. Zun hat sein Ziel erreicht, denn vor ihm liegt die noch rot glühende Klinge von Seelenbinder. Schärfer als alles, was Elona zuvor gesehen hat. Sie jetzt direkt anzufassen, würde bedeuten, in rotierende Messer zu greifen. So wendet sich der Nekromant ab und geht rüber zum zweiten Tisch. Die Schreie der klagenden Geister erinnern ihn daran, dass er beinahe etwas vergessen hätte. Mit einem Fingerzeig beendet er ihr Dasein.


Auf dem zweiten Tisch liegt das Holz für den Griff, die Edelsteine und die Materialien, die dem Griff seine Stärke und der Klinge die Macht der Vernichtungen garantieren sollen. Zun nimmt die Holzblöcke und liest dazu Zaubersprüche aus dem Rezeptbuch von Seelenbinder. Dabei verändern sich die Holzblöcke in seiner Hand und formen sich zu einem Dolchgriff, welcher optimal in seiner Hand liegt. Zun greift zur Karaffe mit kraftvollem Blut und lässt dieses langsam, wie zähes Öl auf den Griff fließen. Befriedigt vernimmt der Alte ein Schmatzen, welches aus dem Holz zu kommen scheint. Der antike Griff saugt das kraftvolle Blut auf, wie ein Verdurstender, der Wasser benötigt. Ein Fleischgolem reicht Zun nun die Elixier-Edelsteine. Stück für Stück platziert er diese auf dem Dolchgriff. Mit der linken Hand greift er nun nach einem Kopf der schreienden Ibogas und hält diesen über den Elixier-Edelstein. Dieser reagiert und wird zähflüssig. Zun setzt den Kopf darauf und dieser verschmilzt mit dem Edelstein. Dann wölbt sich der Edelstein ein Stück nach oben und schließt den Kopf ein. Wieder hart geworden und in allen Farben leuchtend sieht man ihm seine Gefährlichkeit nicht mehr an, und genau so mag es Zun.


Nachdem alle Köpfe und Edelsteine platziert sind, geht Zun wieder zurück zum ersten Tisch. So gefährlich die Schneide ist, so erfüllt sie noch nicht die Anforderungen, die Zun an eine legendäre Waffe stellt und auch das Rezeptbuch zeigt deutlich, dass erst die Hälfte des Weges zur Herstellung erreicht ist. Zun nimmt von seinem Fleischgolem scheußliche Klauen entgegen. Diese platziert er um die Schneide herum. Das Rezeptbuch gibt genau vor, wo jede Klaue liegen und wie sie ausgerichtet sein muss, damit alles perfekt wird. Als Zun sich sicher ist, aktiviert er seine Kräfte und liest die erste Vereinigungsformel. Es bildet sich eine dunkle Wolke über der Klinge und der Kampfschrei eines Raptors ist zu hören. Blitze schießen aus der Wolke und treffen die scheußlichen Klauen. Gemeinsam erheben diese sich in die Luft und beginnen, die Schneide zu attackieren. Die Schneide lässt alle Attacken der Klauen ruhig über sich ergehen. Erst zum Schluss, als die Klauen müde werden, erhebt sich die Schneide und hakt solange auf den Klauen herum, bis nur noch Staub übrig ist. Zun beobachtet fasziniert die ganze Situation. Dann saugt die Schneide den Staub auf, bis nichts mehr übrig ist. Als der Alte mit dem Kopf näher geht, um zu sehen, was mit dem Staub passiert ist, erscheinen auf beiden Seiten der Schneide plötzlich Klauen. Erschrocken geht Zun zwei Schritte zurück. Die Klauen verschwinden und der Dolch schwebt ruhig auf den Tisch zurück.

Zun macht weiter. Kraftvolle Giftbeutel verschmelzen als nächstes mit der Klinge, gefolgt von scheußlichen Fangzähnen und noch vielen weiteren der höchstwertigen Materialien. Jedes Mal beobachtet der Nekromant einen besonderen Effekt. Die Kraft, die Magie und die Macht des Dolches sind jetzt schon spürbar. Es fehlt nicht mehr viel. Die Klinge vibriert und fiebert der Vereinigung mit dem Griff entgegen.


Das Singen einer Sense lässt Zun hochschrecken. Das kam von draußen, unweit seiner Tür. Die Margoniter! Es ist soweit, sie haben ihn gefunden. Nein! Nicht schon wieder! Es darf nicht so enden wie bei der Unsterblichkeit, denkt sich Zun verzweifelt. Der Alte schickt alle gequälten Geister und alle Knochenteufel und Golems, die er kontrollieren kann, nach draußen zur Verteidigung. Er weiß genau, dass seine Kreaturen die Margoniter kaum aufhalten können, aber das müssen sie auch nicht. Es ist nur wichtig, genug Zeit zu haben, um den Dolch zu vollenden. Denn dann werden selbst die Margoniter keine Chance mehr gegen ihn haben. Schnell wendet er sich dem Rezept zu. Um die Schneide und den Griff zu verbinden und dem Dolch seine wahre Macht zu offenbaren, so liest Zun, musst du folgendes Rätsel lösen und deiner Bestimmung nachkommen.


Der Dolch, gebunden durch zweifach Blut, tief in einem Herzen und einer Seele er ruht.


„Was soll das!?“, schreit Zun. „Willst du dich über mich lustig machen, Abaddon? Das ergibt keinen Sinn!“ Mit einem lauten Scheppern fliegt die Tür zur Hütte auf und der Alte dreht sich auf dem Absatz um. Ein Margoniter mit einer riesigen Sense steht vor der Tür. „Gib wieder, was du unserem Herren gestohlen hast“, lautet seine Forderung. Langsam schüttelt Zun den Kopf. „Ich habe euch getäuscht und bin in die Bibliothek gekommen. Ich habe euren Herren getäuscht und konnte beide Bücher stehlen. Warum sollte ich jetzt aufgeben?“ – „Gib wieder, was du unserem Herren gestohlen hast“, wiederholt der Margoniter einfach nur, ohne auf die Worte von Zun einzugehen. Da beginnt er, den Margoniter mit Flüchen zu belegen. Dieser hebt seine Sense und greift Zun an, der mit einem wilden Hechtsprung ausweichen muss. Die Schmerzwelle steigt bei Zun im Bein auf. Wenn der Margoniter gewinnt, hören endlich die Schmerzen auf, denkt Zun für einen Moment. Doch dann gewinnt seine Boshaftigkeit wieder die Oberhand und er nimmt den Kampf auf. Schränke und Bänke zerbrechen unter der Gewalt der Sense. Gleichzeitig werden die Bewegungen des Margoniters langsamer. Zun kämpft weiter und Stück für Stück flucht er den Margoniter nieder.

Dann ist der Punkt gekommen, an dem der Diener des Abaddon am Boden liegt. Die Sense ist zerbrochen und der Besiegte flüstert Zun etwas zu, was dieser nicht versteht. So geht er näher und beugt sich runter. Die letzten Worte des Margoniter sind: „Mein Bruder war unter Felsen eingeschlossen. Er hatte sich von dir Hilfe erwartet, doch du hast ihn verraten. Ich danke meinem Herren für diese Möglichkeit.“ Die Augen von Zun werden groß, als er versteht, aber da ist es bereits zu spät. Der Margoniter nutzt seinen letzten Lebensfunken, um eine magische Explosion auszulösen. Der Alte wird hochgeschleudert und fliegt genau auf den Tisch zu, wo die Klinge von Seelenbinder liegt. Die Klinge spürt ihr erstes Opfer und bohrt sich direkt in das Herz, als der Körper von Zun auf dem Tisch landet. Seine Augen werden groß und er möchte schreien, doch kein Laut kommt über seine Lippen. Da taucht eine Frage in seinem Kopf auf. Was bist du? Mein Herz oder meine Seele? Zun versteht nicht, was gemeint ist. Das Letzte, was er wahrnimmt, ist, wie sich die Schneide aus seinem Körper löst und zum Griff rüber fliegt. Auch der Holzgriff steigt in die Luft auf und dann vereinigen sich beide Teile. Der legendäre Dolch Seelenbinder ist entstanden, doch er hat einen Makel.

Nach einer kurzen Nacht treffen sich Avalyn, Atheus und Kehtu bei der aufgehenden Sonne am Eingang zum Garten von Seborhin. „Was ist los?“, fragt Kehtu, als er Avalyns missmutigen Gesichtsausdruck betrachtet. „Ich habe Hunger“, mault das kleine Mädchen vor sich hin. Kehtu grinst und meint: „In der Nähe gibt es einen hervorragenden Stand für Passionsfrüchte.“ Erst strahlt Avalyn, denn ihr fällt ein, wie süß und lecker die Früchte sind. Doch dann schaut sie auf Wirbelwind und wie aus der Pistole geschossen ruft sie: „Wirbelwind muss aber auch essen.“ Kehtu schaut etwas nachdenklich. „Stand 18 ¾“, kommt da plötzlich von Atheus. Verblüfft, schaut Kehtu Atheus an. „Ja, das ist die Lösung.“ – „Was ist Stand 18 ¾?“, fragt Avalyn. Kehtu und Atheus fangen an zu lachen. „Weißt du“, fängt Kehtu dann an zu erklären, „der Besitzer bietet dort gebratene Hühnchen an. Nicht unbedingt preiswert, aber sie sind lecker. Wenn du es schaffst, mehr als zwanzig Hühnchen-Hälften in zwei Stunden zu essen, dann ist das ganze Essen kostenlos. Schaffst du es nicht, hast du eine verdammt hohe Rechnung.“ – „Okay, soweit habe ich es verstanden“, meint Avalyn, „aber was hat das Ganze mit Wirbelwind zu tun und warum heißt er ‚Stand 18 ¾‘?“ Atheus lacht wieder und meint: „Der einzige, der die Herausforderung jemals fast geschafft hat, war Kehtu. 18 ¾ halbe Hühnchen hat er gegessen, bis er von der Bank fiel mit einem Rülpser, der im ganzen Garten zu hören gewesen war.“ – „Okay, das habe ich jetzt auch verstanden“, und während sie das sagt, schaut sie vorsichtig auf den Bauch von Kehtu und fragt sich in Gedanken, wie da so viele Hühnchen reinpassen. „Wie hilft das denn jetzt Wirbelwind?“ – „Nun, diesmal wird Atheus die Herausforderung annehmen. Aber anstatt die Hühnchen zu essen, wird er sie heimlich, still und leise zu Wirbelwind unter den Tisch schieben. So werden beide satt.“ Avalyns Gesicht strahlt und auch Wirbelwind schlägt mit seinem Schwanz wild hin und her. Der Gedanke an leckere Hühnchen-Hälften scheint ihm zu gefallen.


Auf dem Weg zum Stand 18 ¾, fallen Avalyn sehr schnell die ganzen Wachen auf. „Wovor muss das Fest beschützt werden?“, fragt Avalyn in Richtung Kehtu. Ihr Führer überlegt kurz, bevor er anhält und einmal in Richtung des Hochlandes zeigt. „Der Garten von Seborhin ist das Paradies. Einmal im Jahr kommen Fürsten und Einwohner von ganz Elona hier hin, um das Fest zu Ehren der Göttin Lyssa zu feiern. Fürsten oder Bauern, jeder, der friedliche Absichten verfolgt, ist herzlich eingeladen, am Fest teilzunehmen. Leider gab es in den letzten Jahren vermehrt Angriffe von Harpyien. Keiner weiß, was sie so aufregt. Manche sagen, es ist der Hunger, weil es in dem Gebiet, wo sie leben, keine Beute mehr für sie gibt. Andere wiederum glauben, dass Harpyien von Natur aus so bösartig sind, dass sie gar nicht anders können, als friedliche Menschen anzugreifen. Im letzten Jahr gab es drei Todesfälle und so haben die Fürsten entschieden, das Fest besser abzusichern.“


Das Mädchen bleibt auf dem weiteren Weg immer öfter mit staunendem Mund stehen, während Wirbelwind brav neben ihr herläuft und ziemlich hungrig dreinschaut. „Diese Treppen! Da könnte die Hälfte unseres Dorfes gleichzeitig runtergehen, so breit sind sie“, ruft sie Atheus zu, der ein Stück zurückgeblieben ist, um sich mit einem Kaufmann zu unterhalten. „Schau mal, Wirbelwind, all die Palmen und die Wasserwege dazwischen. So viel Wasser, und es fließt wie ein Bach durch Rinnen und versorgt so die Bäume.“ Avalyn bleibt stehen und kniet neben der Rinne mit Wasser nieder. Vorsichtig tastet sie nach dem Wasser und nimmt dann eine Hand voll, um davon zu probieren. „Es ist köstlich!“ Wirbelwind senkt seinen Kopf und stillt neben ihr ebenfalls seinen Durst. Als das kleine Mädchen sein Spiegelbild im Wasser sieht, glaubt sie neben sich Mama und Papa zu sehen, wie sie auf dem Feld arbeiten. Es hat wieder kaum geregnet und die Ernte wird kaum ausreichen, sie alle zu ernähren. Und hier?, denkt sich Avalyn. Hier fließt das Wasser durch Rinnen, für ein paar Bäume, die niemanden satt machen, aber gut aussehen. Da spiegelt sich das Bild von Atheus im Wasser neben dem von Avalyn und er sieht ihre Nachdenklichkeit. „Woran denkst du?“, fragt Atheus. „Mama und Papa müssen jeden Tag so hart arbeiten. Oft regnet es viel zu wenig und der Boden bleibt karg. Keine Pflanzen, die ihre Köpfe erheben wollen in Richtung des Himmels. Keine Stauden, die sich unter Früchten biegen. Keine Knolle, die von feuchter Erde behütet vor sich hin wächst. Hier fließt das Wasser – und wofür?“ Atheus schließt die Augen, wie Avalyn in seinem Spiegelbild auf dem Wasser erkennen kann. „Das Fest der Lyss“, so fängt der Gelehrte an zu erzählen, „soll drei Tage die Menschen, ihre Sorgen, ihr Leid und ihre Armut vergessen lassen. Sie bekommen hier zu essen, zu trinken, und sie dürfen lachen. Für viele Menschen ist es der einzige Zeitpunkt, wo sie einmal glücklich sein können. Sie nehmen Kraft, Hoffnung und oft auch neue Freundschaften von diesem Fest mit. Komm, ich möchte dir etwas zeigen.“ Während Atheus bereits aufsteht, bleibt Avalyn noch einen Augenblick kniend an der Rinne. Wirbelwind wird es zu langweilig. Er stößt mit seiner Schnauze in die Rinne und ein Schwall kalten Wassers spritzt Avalyn ins Gesicht, die prustend hochschreckt. Grade als das kleine Mädchen mit einer Schimpfkanonade beginnen will, schaut sie Wirbelwind in die Augen. Es ist absolut unmöglich, aber Avalyn könnte schwören, dass Wirbelwind frech am Grinsen ist. Das anschließende Gelächter des kleinen Mädchens ist absolut befreiend und vertreibt ihre düsteren Gedanken. „Ich habe Hunger“, ruft Avalyn ganz laut. „Wo ist jetzt dieser Stand 18 ¾?“ Atheus nimmt sie an der Hand und so geht die kleine Gruppe auf direktem Weg zu Stand 18 ¾.


„Hühnchen! Die Besten, die ihr je gegessen habt!“ So schalt es den dreien und Wirbelwind schon von Weitem entgegen. Ein Riesenzelt erscheint und ein bulliger, großer Kerl steht davor und schreit in alle Richtungen. „Halbes Hühnchen, nur 1 Gold, 27 Silber. Von Melandru selbst gezüchtet und großgezogen und von Grenth höchstpersönlich hingerichtet für einen gnadenvollen Tod. Leute, lasst euch das nicht entgehen.“ Avalyn schaut ziemlich überrascht aus. „Die Göttin Melandru züchtet Hühnchen und Grenth selber nutzt seine Sense, um sie … na, ihr wisst schon?“ Kehtu und Atheus lachen lauthals los. „Lass dich nicht täuschen. So macht er Werbung für sein Geschäft. He, Amaru, erkennst du mich?“ – „Kehtu! Bei Abaddons Geheimnissen, was machst du hier?“ – „Ich bringe Freunde mit, die dich kennenlernen wollen, und einen besonderen Gast, der sich deiner Herausforderung stellen möchte.“ – „Seid willkommen in meinem Zelt, aber der Raptor bleibt draußen.“ Avalyn will gerade wütend protestieren, als Atheus ihr den Mund zuhält. „Selbstverständlich, Amaru.“ – „Dann seid willkommen in meinem bescheidenen Zelt.“


Der bullige Kerl, der, wie Avalyn jetzt weiß, Amaru heißt, geht voran. Atheus bleibt mit Avalyn zurück und sagt: „Ihr müsst mir jetzt beide vertrauen. Sobald das Event beginnt, wird Kehtu rausschleichen und Wirbelwind einen Weg zeigen, wie er versteckt unter meinen Tisch kommt. Kannst du das Wirbelwind verständlich machen?“ Wirbelwind schubst Avalyn mit seinem Schwanz an und stößt sie dann mit der Schnauze in Richtung Zelt. „Ich brauche Wirbelwind nichts zu erklären. Er ist ein kluger Raptor und er hat schon verstanden.“ Atheus schüttelt wieder den Kopf, als er das sieht und hört. „Oh Götter“, murmelt er vor sich hin, „wieder einmal habt ihr eure Macht bewiesen.“


Sie werden in das Zelt geführt, wo viele Holzbänke und Tische aneinandergereiht sind. Wenn unser Dorf zusammen essen würde, hätten hier alle Platz und es wären immer noch Bänke und Tische leer, denkt Avalyn sichtlich beeindruckt. Vielleicht sechzig Gäste sind gerade im Zelt und lassen sich bewirten. „Kommt, die besten Plätze sind für euch reserviert“, ruft Amaru. Der bullige Mann führt sie genau in die Mitte des Zelts und setzt sie dann an einen zentralen Tisch. „Hört, ihr Leute“, ruft Amaru dann ins Rund. „Ich wurde herausgefordert zu einem wahrhaft epischen Kampf. Dieser Mensch, der so dürr ist, dass er sich hinter einem Zweig der Melandru verstecken kann, will mich herausfordern. Er behauptet, er kann in zwei Stunden, zwanzig halbe Hühnchen essen. Meine Hühnchen! Ihr wisst, die besten und leckersten in ganz Elona.“ Ein lautes Gejohle von den anderen Tischen schlägt Amaru entgegen. „Ich höre, ihr seid genauso überrascht wie ich. Aber gut, er soll seine Chance haben. Bitte setz dich, Atheus. Die Herausforderung beginnt jetzt. Jara, mein liebes Weib, bringt das erste halbe Hühnchen.“ Während Atheus bereits am Tisch Platz nimmt, haben sich anderen Gäste von ihren Plätzen erhoben, um sich das Spektakel aus nächster Nähe anzusehen. Kehtu nutzt dieses Gedrängel, um durch die Gruppe raus in Richtung Ausgang zu kommen. Es wird Zeit, Wirbelwind zu holen.

Avalyn steht in der Zwischenzeit neben Atheus und feuert ihn an. Das dritte halbe Hühnchen liegt auf dem Tisch und Jara, die Frau von Amaru dem Wirt, bringt gerade den nächsten Humpen Bier zum Runterspülen. „Eines muss man dir lassen“, ruft Amaru. „Drei halbe Hühnchen in zwölf Minuten ist eine gute Zeit. Ich hoffe, dir schmecken meine Hühnchen?“ Atheus nickt nur. Den anderen Gästen, welche bisher noch interessiert zugeschaut haben, wird es langsam langweilig. So kehren sie an ihre Tische zurück und bestellen neue Bierhumpen und ebenfalls halbe Hühnchen. Jara rennt zurück in die Küche und auch Amaru kann nicht mehr ständig bei Atheus bleiben. Das ist der Moment, auf den die drei gewartet haben. Atheus steht kurz auf und streckt sich und gibt Kehtu so das Zeichen, Wirbelwind reinzubringen. Als Kehtu das Zeichen bemerkt, geht er vor Wirbelwind auf die Knie. „Bitte vertrau mir. Ich werde dich zu Avalyn bringen und deinen Hunger stillen.“ Der Raptor schaut ihn erwartungsvoll an. Kehtu nimmt eine Decke und legt diese über den Raptor, so dass nur noch ein Stück von seinem Maul zu sehen ist. „Komm, Wirbelwind“, ruft Kehtu, „wir gehen zu Avalyn.“ So schleichen beide in das Zelt, ohne dass sie jemand beachtet. Alle schauen nur zu Jara und Amaru, die zwischen den Bänken hin und her laufen, um Essen und Bier zu bringen. Dann haben Kehtu und Wirbelwind den Tisch erreicht und mit einem kleinen Satz springt der Raptor unter den Tisch. Atheus nutzt die erste Chance, die sich bietet, und schmeißt das halbe Hühnchen unter den Tisch und Wirbelwind macht sich genussvoll an das Verspeisen. Dann wartet er ein wenig, um keinen Verdacht zu erregen, um wenig später das nächste halbe Hühnchen zu bestellen. So vergeht die Zeit und als Jara dann das 16. halbe Hühnchen bringt, wird Amaru langsam nervös. „Wo packst du das hin?“, fragt er entgeistert. Atheus lehnt sich entspannt zurück und meint nur: „Freund, ich bin lange gewandert und hatte nur Eidechsen zu essen. Mein Gaumen ist entzückt von deiner Küche.“ „Jara“, schreit Amaru seine Frau an, „bring endlich das halbe Hühnchen Nummer 17!“ Da werden die anderen Gäste neugierig und kommen wieder an den Tisch.


„Du hast noch 14 Minuten“, flüstert Amaru mit einem gehässigen Lachen Atheus ins Ohr. „Wirst du das schaffen?“ Atheus ist nicht begeistert, lässt sich aber nichts anmerken. Er ist mehr als satt und in seinen Gedanken laufen Menschen mit großen Schildern herum, auf denen steht: „Nie wieder halbe Hühnchen!“ Aber jetzt, da alle wieder aufmerksam den Tisch und damit ihn beobachten, führt kein Weg dran vorbei. Atheus vergräbt seine Hände in das halbe Hühnchen und reißt es Stück für Stück auseinander. Da kommt wieder die zischende Stimme von Amaru. „Noch 11 Minuten. Du wirst langsamer.“ Atheus gibt alles und stopft die Teile des Hühnchens in seinen Mund und kaut. Das Schlucken fällt ihm schwer und der Magen rebelliert, doch das Bier lässt es leichter runterrutschen. „18 halbe Hähnchen“, verkündet Amaru mit lauter Stimme, „und noch acht Minuten Zeit. Wird er scheitern wie sein Freund?“ Da kommt Jara und legt ihm das 19. halbe Hühnchen auf den Tisch. Atheus wird bleich und fängt an zu zittern. Da fängt Avalyn an zu schreien. „Mein Fuß! Der blöde Mann hier neben mir ist mir auf den Fuß getreten.“ Alle schauen entsetzt auf das Mädchen. Atheus erkennt im selben Augenblick, dass Avalyn helfen will. Schnell lässt er das halbe Hühnchen unter den Tisch fallen, wo Wirbelwind es genussvoll mit einem Happen verspeist. Kehtu schiebt sich an die Seite von Avalyn und untersucht den Fuß. „Gebrochen ist nichts“, verkündet er dann mit gewichtiger Miene. „Aber einen blauen Fleck wirst du schon bekommen.“ Avalyn schaut den Mann, der neben ihr steht, böse an. Dieser ist sich zwar keiner Schuld bewusst, entschuldigt sich aber dennoch wortreich bei der Kleinen.


Als alle sich wieder zurückdrehen, ist der Teller leer und Atheus fragt Amaru: „Kannst du dich ein bisschen beeilen? Ich habe nur noch vier Minuten Zeit.“ Dieser schaut fassungslos auf den leeren Teller. „Jara“, schreit er wieder seiner Frau hinterher. „Das 20. halbe Hühnchen, aber schnell!“ Als Jara die letzte Portion bringt, wird Atheus aus sechzig Kehlen angefeuert. „Iss! Iss! Iss!“ Dabei stampfen sie rhythmisch mit dem rechten Bein auf. Das Zelt bebt und mit jedem Stück, das vom Teller verschwindet, wird es im Zelt lauter und Amaru blasser.


Noch zwanzig Sekunden! – Atheus zittert am ganzen Körper. Der Kopf sagt nein, der Magen schreit nein und doch, vom Rhythmus der stampfenden Beine und den Anfeuerungen hochgepeitscht, stopft Atheus das letzte Stück in seinen Mund und kaut. Zwei Sekunden! Atheus reißt den Mund auf und alle schauen. Der Mund ist leer! „Zwanzig halbe Hühnchen in zwei Stunden. Du hast gewonnen“, ruft Amaru und geht geschlagen in Richtung der Küche. Die Menge jubelt und möchte Atheus auf die Schultern heben, doch dieser sucht nur eine stille Ecke. Er hat einiges, was er ganz dringend loswerden will. Währenddessen liegen sich Avalyn und Kehtu in den Armen. Ihr Plan ist aufgegangen. Kehtu beginnt, eine große Rede auf seinen Freund zu halten, und Avalyn nutzt die Chance, Wirbelwind heimlich, still und leise wieder aus dem Zelt zu schaffen. Nachdem sie draußen die Decke entfernt hat, schaut sie den Raptor an und meint: „Ich glaube, das Frühstück war selbst für dich etwas viel oder?“ Wirbelwind kommt mit seiner Schnauze ganz nah an Avalyn ran, um dann zu rülpsen. Der Geruch von halb verdautem halben Hühnchen, lässt Avalyn mit einem Mal sehr bleich werden.


Es dauert etwa eine Stunde, bis sich alle drei draußen vor dem Zelt wieder zusammenfinden. „Ihr habt gegessen, aber ich habe immer noch Hunger“, kommt da von Avalyn. Atheus, der noch etwas zittrig unterwegs ist, meint: „Bitte keine Worte mehr über Essen.“ Kehtu nickt verständnisvoll und will gerade etwas sagen, als ein Vaabi-Wächter angelaufen kommt, der einen Umschlag in beiden Händen trägt. „Was können wir für dich tun?“, fragt Kehtu. „Fürst Menthu der Weise wünscht, euch zu sehen und zu sprechen“, antwortet der Vaabi-Wächter. „Ist dir bekannt, was Fürst Menthu von uns will?“ Der Vaabi-Wächter schüttelt den Kopf. „Ich soll euch finden und die Einladung überbringen. Nicht mehr und nicht weniger. Allerdings“, hier ändert sich die Tonlage des Wächters und wird leise, fast flüsternd, „haben mir meine Quellen berichtet, dass heute Abend ein ganz besonderer Gast erwartet wird. Fürst Jadoth, der erste Margoniter, wird durch die Mondpassage persönlich auf dem Fest erscheinen.“ – „Was bedeutet das alles?“, fragt Avalyn in Richtung von Kehtu. Der Freund von Atheus schüttelt nur den Kopf. „Ich weiß es nicht.“ Da meldet sich der Vaabi-Wachmann nochmal. „Fürst Menthu bittet euch, ab 21 Uhr seine Gäste zu sein. Um 23 Uhr beginnt ein großes Feuerwerk und um 0 Uhr wird, wenn meine Informationen richtig sind, der Besuch von Fürst Jadoth erwartet.“ Kehtu ruft: „Wir werden da sein!“ – „Moment“, kommt da von Atheus, „haben wir da nicht auch ein Wort mitzureden?“ – „Ja, aber“, kommt da protestierend von Kehtu, doch ein warnender Blick von Atheus lässt ihn verstummen. Dann schaut der Gelehrte Avalyn an. „Wir sind zusammen hierhingewandert, um zu erfahren, was deine Bestimmung ist. Was ist deine Meinung?“ Avalyn schaut erst zu Wirbelwind, dann zu Atheus. „Ich habe Angst nach der Geschichte, die Kehtu erzählt hat, und ich möchte am liebsten nach Hause zu Mama und Papa. Ich will nicht etwas Besonderes sein. Aber gleichzeitig bin ich auch neugierig. Ich will wissen, wie die Legende weitergeht. Darf ich mich später entscheiden?“ Atheus nickt und meint: „Bitte Kehtu, geh mit Avalyn zum Passionsfruchthändler. Wir treffen uns später bei unserem Quartier und besprechen gemeinsam, wie es weitergeht.“ Kehtu nickt schweren Herzens und als sie gehen, ruft der Vaabi-Wächter fassungslos ihnen hinterher: „Was sage ich denn jetzt Fürst Menthu?“ Atheus dreht den Kopf und meint: „Sage dem Fürsten, dass ein Mädchen, welches von den Göttern auserwählt wurde, dann zum Fest erscheint, wenn es ihr gefällt.“ Mit diesen Worten dreht sich Atheus um und lässt einen überforderten Vaabi-Wächter zurück.

Absolute Dunkelheit. Es ist kalt, so bitterkalt. Bin ich tot und bei Grenth?, fragt der alte Zun sich in Gedanken. Bist du mein Herz oder meine Seele?, hört Zun da wieder die Frage. Wo bin ich? Ein Lachen ertönt. Dummkopf. Du hast mich erschaffen, du solltest wissen, wer ich bin und wo du bist. Zun schüttelt den Kopf, zumindest glaubt er, das zu tun. Ich bin der legendäre Dolch Seelenbinder. Um mich zu erschaffen, müssen zwei Seelen an mich gebunden werden. Eine davon ist deine, du bist mein Erschaffer! Eine zweite Seele fehlt mir, hier wird die Stimme, die Zun hört, vorwurfsvoll. Du hast versagt, Erschaffer! Jetzt sag mir wenigstens, was du bist, mein Herz oder meine Seele? Zun versucht, das Gehörte zu verstehen. Der Dolch, gebunden durch zweifach Blut, tief in einem Herzen und einer Seele er ruht. Ich versteh es nicht!, schreit Zun in die Dunkelheit. Der Dolch stöhnt auf. Amateur! Also gut, ich werde dir die Geschichte meiner Entstehung erzählen.


Grenth, der Gott des Todes, suchte vor vielen Jahren eine neue Waffe für einen seiner Schnitter als Belohnung für geleistete Dienste. Diese Waffe sollte einmalig sein, etwas wirklich Besonderes. Der Gott des Todes überlegte, was für eine Waffe zu seinem neuen Diener passen würde und entschied sich dann für einen Dolch. Dolche gab es viele, aber keiner hielt den Anforderungen stand, die Grenth an solch eine Waffe hatte. So beschloss er, einen neuen legendären Dolch zu erschaffen. Es vergingen Jahre. Grenth probierte viel aus, aber niemals war er mit dem Ergebnis zufrieden. Da streifte ihn die Aura der Macht von Lyssa und so schickte er eine Botschaft – und Lyssa antwortete. „Der Dolch, den du vergeben willst, muss das besitzen, was du nimmst. Leben! Zwei Leben müssen sich opfern, um ihn perfekt zu machen.“ – „Warum zwei Leben?“, kam die Frage von Grenth. „Du unterscheidest nicht zwischen Gut und Böse. Alle müssen sich deinem Gericht stellen. So muss die Waffe von zwei Seelen durchdrungen sein. Einer guten Seele und einer bösen Seele. Beide halten sich im Gleichgewicht und sind damit Teil der perfekten Waffe vom Gott des Todes.“ Grenth verstand, warum er bisher gescheitert war. Angriffe der Truppen von Dhuum lenkten die Aufmerksamkeit von Grenth dann aber wieder weg vom Dolch und so verewigte er das Rezept und den Bauplan auf einer speziellen Folie und platzierte diese erst einmal in der Bibliothek von Abaddon. Dort hast du mich dann gefunden und gebaut.


Jetzt antworte mir endlich, ruft der Dolch nun wieder. Was bist du? Zun entscheidet sich. Ich bin dein Herz! Das Feuer der Rache brennt tief in meinem Herzen und damit in deinem. – Dann nutze die Kraft deiner dunklen Gedanken und lass uns zu dem Ort fliegen, wo deine Rache auf Erfüllung wartet, antwortet der Dolch. Eine Wolke bildet sich in der Schwärze und wie in einer Glaskugel kann Zun, seine Umgebung sehen. Sein Labor liegt in Trümmern. Es qualmt aus verschiedenen Richtungen. Wie kommen wir hier weg?, fragt Zun sich. Wünsche es dir, du kannst mich mit deinen Gedanken steuern, kommt es da vom Dolch. Erhebe dich!, denkt Zun und schon schießt der Dolch nach oben unter die Decke. Erschrocken zieht er sich weiter in die Dunkelheit zurück, weg von der Glaskugel. Verdammt! Der Dolch ist sichtlich verärgert. Amateur, lass mich langsam hochsteigen. Vorsichtig bewegt sich Zun wieder auf die Glaskugel zu. Der Dolch liegt auf dem Boden. Langsam setzt er seine Gedanken diesmal ein und er sieht an dem Bild, wie sich der Dolch zögernd erhebt. Na, geht doch, du Dolch-Anfänger, kommt es da sarkastisch zurück. Zun hört gar nicht weiter hin, sondern beginnt damit, verschiedene Sachen auszuprobieren. Steigflug, Sinkflug, Ausweichen und so dauert es gar nicht lange, bis er begreift, welche Macht er besitzt. Die Gilde! Die, die mich verstoßen haben. Jetzt ist der Zeitpunkt meiner Rache gekommen. Der Dolch lacht gehässig auf und antwortet, Ja! Blut, Kraft und Lebensenergie. Ich habe Hunger, Zun! Lass uns losfliegen. Und der Alte lässt den Dolch in die Luft steigen und direkten Kurs auf die Halle der Gildenmagier nehmen.


Zun ist berauscht von seiner neuen Macht. Früher hat er anderen den Tod gebracht, heute ist er der Tod. Alle werden es erleben. Alle, die ihn ausgelacht haben, alle, die verhindern wollten, dass er unsterblich wird. Ganz besonders Epetran, der alte Elementarmagier, der über ihn Gericht gehalten hat. Ja, diese Gedanken gefallen mir, kommt da vom Dolch. Dein dunkles, schwarzes Herz, das keinem Gewissen folgt, das einfach nur böse ist. Ein hässliches Kichern verstärkt die Worte des Dolches noch und auch Zun ist begeistert. Er ist der Herr, der Dolch sein Diener. Das kurze protestierende Gemurmel vom Dolch bekommt Zun gar nicht erst mit. Es wird Zeit zu üben, Zun. – Was soll ich üben?, fragt der Alte in Richtung Glaskugel. Wie du mit mir deine Gegner besiegst. Schau, da vorn ist eine Horde Wargs. Wie sollen wir sie zusammen töten?, fragt der Dolch. Mit Kraft und Präzision oder lieber mit Zustandsschaden und Fachkenntnis? Der Alte braucht nicht lange zu überlegen. Ich war immer den Kräften der Nekromantie zugetan. Nutze Fachkenntnis und Zustandsschaden. Der Dolch lacht und Zun sieht über die Glaskugel, wie sich eine grüne Wolke um den Dolch bildet. Seelenbinder greift, von Zuns dunklen Gedanken getrieben, die Wargs an und mit jedem Angriff spürt er die Energie des Dolchs. Ein schmatzendes Geräusch ertönt und Zun hat das Gefühl, jünger zu werden. Die Kraft deiner Gegner und ihre Lebensenergie gehen im Augenblick ihres Todes auf dich über, erklärt der Dolch. Der Zustandsschaden tötet sie, aber die Fachkenntnis fängt ihre Lebensenergie auf und leitet diese zu dir. Zun fängt an, in der Dunkelheit hin- und herzurasen. Er fühlt sich frei, mächtig und am Ziel seiner Wünsche. Vorwärts, schreit er in die Schwärze, die Rache ist mein!


Als der Dolch an der Halle der Gildenmagier ankommt, schaut Zun mit brennenden Augen auf die Glaskugel. Sie haben über mich gelacht. Sie haben mich erniedrigt. Sie haben mich gedemütigt. Jetzt will ich Rache! Zun lässt den Dolch aufsteigen, bis er durch ein Turmfenster in die Gildenhalle fliegen kann. Zimmer für Zimmer sucht er die Gildenhalle ab, aber niemand ist da. Erst als er in den Thronsaal kommt, sitzt genau in der Mitte der großen Halle ein Mensch in einem Stuhl. „Ich habe dich erwartet, Zun“, schalt es ihm entgegen. Der Alte heult auf und schreit: „Epetran! Wo sind alle?“ Der Alte im Stuhl schlägt die Beine übereinander und meint: „Fürst Jadoth war hier und hat uns von deinem Diebstahl berichtet. Er meinte auch, dass der Bau von Seelenbinder nicht verhindert werden kann und dass du kommen wirst, um Rache zu nehmen. So habe ich mich entschlossen, hier auf dich zu warten. Du sollst deine Rache bekommen, Zun, aber auch nicht mehr. Ich habe über dich geurteilt, ich habe dich aus unserer Gemeinschaft verstoßen. So nimm Rache an mir.“ Blind vor Wut steuert Zun den Dolch genau auf Epetran zu. Mit einem lauten Schmatzen schießt er dem alten Elementarmagier direkt ins Herz und Zun hört sich selber rufen: Saug langsam jedes bisschen Lebensenergie aus ihm heraus! Ich will spüren, wie das Leben aus ihm weicht und mich stärkt. Als die Übertragung der Lebensenergie schließlich abnimmt und wenig später ganz versiegt, schaut Zun ein letztes Mal in das Gesicht von Epetran, welches nun aussieht, wie um 250 Jahre gealtert. Und doch sieht Zun auf seinem Gesicht ein Lächeln. Wie kann das sein!?, schreit Zun wieder in die Schwärze. Er ist tot! Ich habe gewonnen. Wie kann er lächeln? Jadoth! Ich schwöre bei der abgrundtiefen Schwärze, ich werde dich finden und töten, erster Margoniter des Abaddon. Du magst hier meine Rache verhindert haben, aber dafür werde ich dich finden und vernichten!

Während Avalyn sich am Stand mit den Passionsfrüchten ihren Hunger stillt, wird Kehtu von Minute zu Minute nervöser. „Und?“, fragt er in Richtung von Avalyn. Das Mädchen schaut ihn an und kaut genüsslich weiter. Dabei versucht sie nebenbei zu sprechen, was dazu führt, dass ein Teil der Passionsfrüchte im Gesicht von Kehtu landet. Wirbelwind nutzt die Situation, um mit einer schnellen Bewegung von seinem Schweif Kehtu zu Boden zu schicken. Dann beugt der Raptor sich zu ihm runter und beginnt, sein Gesicht abzulecken. Mit einem großen Grinsen im Gesicht schiebt sich Avalyn die nächste Passionsfrucht in den Mund. Kehtu sieht ein, dass er Geduld zeigen muss, und so setzt er sich auf eine Bank und wartet, bis Avalyn fertig ist mit Frühstücken.


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Wie finde ich Jadoth? Diese Frage wühlt sich wie ein glühendes Messer durch Zun. Blind vor Zorn, sein Lebenswerk, eine Karikatur seiner Wünsche. Er wollte Macht und Unsterblichkeit. Beides hat er bekommen, aber nicht so, wie er es sich vorgestellt hatte. Unsterblich dadurch, dass seine Seele und sein Bewusstsein an den Dolch gebunden wurden. Macht durch die Möglichkeiten, welche diesem Dolch so eine einzigartige Magie verleihen. Aber wer würde ihn fürchten? Wer seinen Namen kennen? Niemand! Nur Abaddon und Jadoth würden das Geheimnis kennen. Mit den letzten Fetzen seines Verstandes erkennt Zun, dass er niemals eine Chance haben würde, Abaddon zu finden, geschweige denn ihn zu strafen. Doch wenn er Jadoth fände und tötete, so wäre das auch ein Schlag gegen den Gott der Geheimnisse. So befiehlt er dem Dolch aufzusteigen und loszufliegen. Es gibt nur einen Ort, an dem Zun herausfinden kann, wo Jadoth zu finden ist: In der Bibliothek des Abaddon.


*


Endlich ist Avalyn fertig mit dem Frühstück und Kehtu setzt zum gefühlt zwanzigsten Mal zu der Frage an. „Werden wir gemeinsam heute Abend auf das Fest gehen?“ Avalyn schaut ihn mit einem leicht gequälten Gesichtsausdruck an. „Ich glaube, ich habe zu viele Passionsfrüchte gegessen. Wo ist eine Toilette?“ Der Tonfall in der Stimme des Mädchens beweist Kehtu ganz deutlich, dass es dringend ist. „Nach Osten, drei Stände lang, dann nach links, fünf Stände geradeaus, nach rechts, am roten Steinhaus vorbei. Dann nach Süden, acht Stände und dann nach rechts abbiegen.“ Avalyn schaut Kehtu mit großen Augen an. „Das ist zu weit und ich habe jetzt schon fast alles vergessen.“ Da greift Wirbelwind ein. Der Raptor schnappt sich Avalyn und sprintet in die angegebene Richtung. Die Menschen um sie herum verfallen in Panik und schreien. Sie glauben, dass Wirbelwind Avalyn entführt hat, um sie als Beute anschließend zu fressen. Es vergeht über eine Stunde, bis der Tumult sich gelegt hat und Kehtu sich endlich fragen kann, warum Avalyn und Wirbelwind noch nicht wieder zurück sind. Eine halbe Stunde wartet er noch an der Position, um dann langsam den Weg Richtung Toilette abzulaufen. Unterwegs fragt er Händler und Marktweiber, ob sie das ungleiche Paar gesehen haben, und jedes Mal wird ihm bestätigt, dass die beiden hier vorbeigekommen sind. Als er dann vor der Toilette an kommt, sieht er zwei Bettler, die rechts und links neben dem Eingang sitzen. „Der Segen der sechs Götter mit euch“, spricht er die beiden an. „Könnt ihr mir sagen, ob ein Mädchen und ein Raptor hier vorbei gekommen sind?“ Der eine schaut zu ihm hoch und meint: „Mein Bauch ist leer, da fällt das Erinnern sehr schwer.“ Kehtu greift an seinen Geldbeutel und holt ein Goldstück hervor. „Bitte, es ist sehr wichtig.“ Schnell lässt der Bettler das Goldstück verschwinden und meint: „Ja, die beiden waren hier. Vielleicht eine Stunde ist es her. Das Mädchen hat sich erleichtert und zog dann mit ihrem Freund weiter.“ – „Weißt du wohin?“, fragt Kehtu mit klopfendem Herzen. „Die Kleine sucht die Stille, um eine Entscheidung zu treffen. Suche sie und du wirst sie finden, aber die Antwort wird nicht die Lösung sein.“ Kehtu versteht und mit hängendem Kopf geht er zurück in den großen Tempel. Ich glaube an die Götter und ich werde beten.


*


Der Zorn lodert weiter wie ein gewaltiges Feuer in Zun. Immer heftiger treibt er den Dolch an, schneller zu fliegen. Kurz bevor Seelenbinder die Bibliothek des Abaddon erreicht, kommt er an einem Tempel vom Gott der Geheimnisse vorbei. Zun sieht wieder durch eine Art Glaskugel aus dem Dolch heraus und beobachtet so sechs Margoniter, die vor dem Tempel im Kreis sitzen und sich unterhalten. Ich muss wissen, über was sie reden. – Ich kann mich in den Boden graben und knapp unterhalb zuhören, antwortet der Dolch. So siehst du zwar nichts, aber du hörst alles. Zun überlegt kurz. Die letzten Fetzen seines Verstandes wollen das Gespräch belauschen. Der Zorn in ihm will sie am liebsten sofort töten. Mit aller Macht drängt Zun den Sturm aus Gefühlen zurück und befiehlt den Dolch unter die Erde. Als die richtige Position erreicht ist, wird der Alte ganz still und lauscht. Selbst der Zorn in ihm will plötzlich wissen, über was sich die sechs unterhalten.

„Fürst Jadoth hatte vor Kurzem eine Audienz bei Abaddon.“ – „Was ist daran so ungewöhnlich?“ – „Er hat anschließend mit mir darüber gesprochen.“ Ein überraschendes Gemurmel ist nun aus der Runde zu hören. „Fürst Jadoth hat dir erzählt, was Abaddon zu ihm gesagt hat?“ Die Ungläubigkeit in der Stimme ist eindeutig zu hören. „Fürst Jadoth wirkte sehr verwirrt. Er meinte, Abaddon habe ihm befohlen, heute um Mitternacht auf dem Fest der Lyssa zu erscheinen.“ – „Und was soll er da?“ – „Das hat Abaddon nicht zu ihm gesagt. Nur dass er Punkt Mitternacht über die Mondpassage auf dem Fest erscheinen soll. Fürst Menthu werde ihn erwarten.“ – „Wirst du den Fürsten auf das Fest begleiten?“ – „Nein, der Befehl lautet, dass er alleine dort erscheinen soll.“ Während die Margoniter anfangen zu spekulieren, zieht Zun sich zurück. Er hat genug gehört. Heute um Mitternacht werde ich meine Rache bekommen!

Tief im Gebet versunken, die Statuen der sechs Götter um sich herum, kniet Kehtu im Tempel, als sich eine Hand auf seine Schulter legt. „Ich habe fürchterliche Angst vor dem, was kommen wird. Zu welchem Gott muss ich beten, damit es mir besser geht?“ Kehtu hebt den Kopf und sieht Avalyn neben sich stehen. „Ich schäme mich“, meint Kehtu. „Warum?“, fragt Avalyn zurück. „Weil ich dich gedrängt habe, heute Abend mit auf das Fest zu gehen, nur damit sich die Prophezeiung erfüllt.“ – „Muss ich denn heute Abend nicht dahin?“, fragt Avalyn. Kehtu schüttelt den Kopf: „Nein, musst du nicht. Nur wenn es dir gefällt.“ Avalyn kniet sich neben Kehtu hin und wiederholt ihre Frage. „Ich habe Angst. Zu welchem Gott muss ich beten?“ Kehtu nimmt ihre Hand und sagt: „Zu dem Gott, dem du am meisten vertraust.“ Die Lippen des kleinen Mädchens bewegen sich, aber kein Ton kommt hervor. So verbringen Avalyn und Kehtu schweigend die Zeit im Tempel, bis Atheus dazukommt. Nach einer letzten Bitte um den Segen aller Götter stehen die drei auf und verlassen den Ort. Es fängt schon an dunkel zu werden und Avalyn bittet beide, kurz stehen zu bleiben. „Ich habe eine Entscheidung getroffen.“ Gespannt schauen Atheus und Kehtu Avalyn an, sagen aber selbst kein Wort. „Ich habe gebetet und ich habe immer noch Angst. Wenn es eine Prophezeiung ist, kann ich nicht weglaufen, denn dann ist der Weg vorbestimmt. Ich will das alles nicht, aber wenn ich schon nicht weglaufen kann, dann will ich wenigstens wissen, wozu mich die Götter auserwählt haben.“ Atheus nimmt die linke Hand von Avalyn und meint: „Ich werde bei dir sein, egal wie du dich entscheidest.“ Da schauen beide Kehtu an. „Die Götter haben dich ausgesucht. Es ist mir ein Ehre, wenn ich dich begleiten darf.“ Avalyn streckt ihre rechte Hand aus und Kehtu ergreift diese. Zusammen machen sie sich auf den Weg zum Bereich von Fürst Menthu.


*


Ein fliegender Dolch erregt Aufmerksamkeit. Das ist selbst Zun in seinem Zustand klar. Also überlegt der Alte, wie er am besten unbemerkt in den Garten von Seborhin kommt. Tief in seine Gedanken versunken bemerkt er unbewusst, wie der Dolch langsamer wird. Was ist los? Warum wirst du langsamer?, will er vom Dolch wissen. Weil ich Kraft verliere, Erbauer. Ich bin dank deines Fehlers bei meiner Herstellung mit einem Makel behaftet, kommt die Antwort vom Dolch. Erst wenn die zweite Seele sich mit mir vereinigt hat, werde ich perfekt sein. – Und wie bekommst du wieder Kraft zurück?, will Zun wissen. Solange du alleine mich beherrschst, antwortet der Dolch, muss ich töten, um zu Kräften zu kommen.


Ein reisender Kaufmann wird das erste Opfer und wenig später ein Priester der sechs Götter. Bei jedem eintretenden Tod spürt Zun die Lebenskraft, die vom Opfer auf den Dolch und teilweise auch auf ihn übergeht. Zufrieden registriert der Alte, dass der Dolch nach dem dritten Opfer wieder direkten Kurs auf den Garten von Seborhin nimmt. Währenddessen nimmt der Plan von Zun Gestalt an. Die Dunkelheit wird mich schützen, aber das Mondlicht wird mich verraten. Deshalb werde ich mich verstecken müssen, bis Jadoth eingetroffen ist. Nichts darf meinen Plan gefährden. Da meldet sich der Dolch: Wir erreichen jetzt die südlichen Mauern des Gartens von Seborhin, Erbauer. Das Bild, welches der Dolch für Zun projiziert, lässt den Zorn wieder wie eine Flutwelle ansteigen. Es wäre sein Fest gewesen! Das Fest des Zun, nicht das der Lyss. Sie hätten alle zu ihm kommen müssen, um zu knien. Die Angst in ihren Augen wäre seine Form der Anbetung gewesen. Was hatte er jetzt noch? Nichts mehr außer seiner Rache! Da kommt ein Satz vom Dolch. Sie ist hier! Verstört blickt Zun auf die Bilder, die der Dolch sendet. Wer ist hier?, will er von Seelenbinder wissen. Meine Seele, antwortet der Dolch. Was heißt das?, will Zun wissen, doch der Dolch schweigt. Alles Anschreien und Drohen bringt nichts. Der Dolch schweigt beharrlich. Unsicherheit macht sich in Zun breit, was hat der Dolch gemeint mit seine Seele sei hier? Hat er die zweite Seele gefunden, die ihm fehlt? Und was passiert, wenn ein zweites Bewusstsein in den Dolch eindringt? Zun lacht und sagt: Erst werde ich den anderen brechen. Dann werde ich ihn zu meinem Diener machen. Ich werde meinen Spaß haben.

Das Festzelt von Fürst Menthu ist gut abgeschirmt. Wachen aus Vaabi sowie seine persönliche Leibwache sichern das gesamte Gebiet. Als die drei und Wirbelwind sich nähern, kommt eine Wache sofort auf sie zugelaufen. „Das ist das Festzelt von Fürst Menthu. Ich bitte euch zu gehen.“ Atheus tritt ein Stück vor und sagt: „Beschützer deines Herrn, lass dir berichten, dass Fürst Menthu nach uns geschickt hat, um dieses Mädchen, ihren Raptor und uns beide genau jetzt zu treffen.“ Misstrauisch schaut der Wächter die Gruppe an. „Bitte, halte Rücksprache mit deinem Herrn“, meint Atheus. Der Wächter dreht sich um und macht zwei anderen Wachen Platz, die den Eingang zum Festgelände weiter kontrollieren. „Da, schau!“, meint Kehtu und zeigt mit seinen Armen nach oben in den Himmel. Alle schauen nach oben und sehen die Sterne und den Mond in einer glasklaren Nacht. „Es ist wunderschön“, meint Avalyn. „Das meine ich nicht“, fährt Kehtu sofort dazwischen. „Es ist wieder Vollmond!“ – „Ja und?“, wundert sich Avalyn. „Wir hatten vor Kurzem erst Vollmond. Das dürfte nicht sein“, antwortet Atheus. „Abaddon persönlich öffnet die Mondpassage für Fürst Jadoth“, flüstert Kehtu vor sich hin. Während noch alle intensiv den Himmel betrachten, kehrt der Leibwächter zurück. „Fürst Menthu lässt mitteilen, dass er hoch erfreut ist, euch als seine persönlichen Gäste begrüßen zu dürfen.“ Die Wachen stehen Spalier, sodass Avalyn, Atheus, Kehtu und natürlich auch Wirbelwind einen Durchgang haben, der sie direkt bis an das Festzelt des Fürsten bringt. Am Eingang erwartet sie der Wächter, welcher ihnen nachmittags schon die Einladung überbracht hat. „Ich freue mich, dass ihr gekommen seid. Der Fürst bittet euch in sein Zelt. Er hat einen Platz für euch reserviert, direkt an seiner Seite.“


Als sie eintreten, ist Avalyn erst einmal geschockt. Gold, Edelsteine, Diener, Tänzerinnen, Wein in großen Karaffen, ein Zelt mit einem Dach so hoch wie der Himmel. Auf den Tischen liegen wunderschöne Decken aus elonischen Lederquadraten und die Adligen sitzen auf weichen Stühlen. Einige schauen kurz auf und betrachten die Neuankömmlinge. Auf einem Teil der Gesichter sieht Avalyn Gleichgültigkeit, auf anderen Ablehnung und auf einigen Gesichtern auch Erschrecken. Es wird stiller im Zelt und Avalyn ist es etwas unwohl zumute. Irgendetwas ist hier unheimlich. Der Wächter führt sie zu einem Treppenaufgang, welcher auf ein Podium führt, auf dem Fürst Menthu gerade lebhaft diskutiert. Als die drei zusammen mit Wirbelwind nur noch wenige Schritte von Fürst Menthu entfernt sind, hebt dieser die rechte Hand und meint: „Freunde, bitte entschuldigt mich. Gäste aus einem Teil von Elona, den ich selten besuche, sind eingetroffen. Ich möchte sie gebührend empfangen und mit ihnen sprechen.“ Mit diesen Worten dreht der Fürst sich um und geht mit einem Lächeln auf Avalyn und ihre Begleiter zu. Als der Fürst vor der Gruppe steht, neigt er sich hinab, um mit Avalyn auf einer Höhe zu sein. „Ich habe geträumt, dass du kommen wirst. Ich weiß nicht warum, aber ich weiß, dass du wichtig bist in einem Plan der Götter.“ Mit großen Augen schaut Avalyn den Fürsten an. Weißt du mehr über den Plan der Götter?“, fragt Avalyn mit zitternder Stimme. Der Fürst schüttelt den Kopf. „Nein, im Traum wurde mir nur deine Ankunft verraten und dass heute um Mitternacht noch Fürst Jadoth, der erste Margoniter des Abaddon, dazukommen wird. Mehr weiß ich leider selber nicht.“ Avalyn sieht in den Augen des Fürsten, dass er nicht lügt. Ihre Angst vor dem, was kommen wird, steigt und der Fürst bemerkt, wie ihre Hände anfangen zu zittern. „Ich habe eine Tochter in deinem Alter“, erzählt Fürst Menthu. „Sie möchte dich und deinen Raptor gern kennenlernen. Bist du damit einverstanden?“ Avalyn nickt, gleichzeitig schaut sie aber auch Atheus und Kehtu an. „Es muss toll sein für dich, ein Mädchen in deinem Alter zu treffen und mit ihr zu reden“, kommt da schnell von Atheus. „Wir finden dich schon.“ – „Aber nein“, kommt da sofort der Einwand von Fürst Menthu. „Du, Gelehrter Atheus, und du, Kehtu, Priester der sechs Götter, ihr nehmt bitte Platz rechts und links neben mir. Ihr sollt immer in der Nähe von Avalyn sein.“


*


Zwischen Lasttieren und Kisten versteckt, kommt der legendäre Dolch Seelenbinder in den Garten von Seborhin und damit auf das Fest der Lyss. In einem günstigen Moment, lässt sich der Dolch herunterfallen, um dann schnell zwischen zwei Festzelten zu verschwinden. Weißt du, wo der Bereich von Fürst Menthu ist?, will Zun vom Dolch wissen. Ja, kommt es sofort vom Dolch. Zun kann das Vibrieren in der Stimme des Dolches spüren. Freude, Lust und Spannung sind für den Alten erkennbar. Alles Gefühle, welche Zun verwirren und wütend machen. Ich bin dein Herr!, schreit er den Dolch an. Konzentrier dich auf deine Arbeit! Der Dolch fliegt weiter an Festzelten vorbei, immer darauf bedacht, nicht aufzufallen. Das letzte Stück des Weges gräbt er sich durch den Boden, um direkt im Festzelt des Fürsten herauszukommen. Mit einem letzten Satz fliegt der Dolch auf einen festlich gedeckten Tisch, um dann neben einer Obstschale zur Ruhe zu kommen. Zun befiehlt den Blick durch die Glaskugel nach draußen. Jetzt liege ich wie die Spinne auf der Lauer und sobald Jadoth kommt, werde ich ihn töten. Das Lachen des Alten bekommt nur der Dolch mit. Seelenbinder jedoch ist mit seinen Gedanken ganz woanders. Er spürt die Seele, das Licht, das Gute, mit dem er sich vereinigen möchte, um in Einklang zu kommen. Aber der Dolch spürt auch, dass er Geduld haben muss. Noch ist es nicht soweit.


*


„Hallo, ich bin Kaira“, stellt sich das Mädchen vor, welches mit einem offenen Lächeln Avalyn anschaut. „Mein Vater hat mir erzählt, dass du kommen wirst und ich war neugierig. So habe ich ihn gefragt, ob ich dich treffen darf.“ Avalyn nutzt die kurze Zeit, um Keira anzuschauen. Wilde, schwarze Haare, die durch Schleifen aus kostbarem Samt gebändigt werden, umschließen einen Kopf mit dunkelbrauner Haut, zwei grünen Augen und einer kleinen Nase. Das Kleid, das Kaira an hat, zeigt nur edelste Materialien, und die Sandalen aus elonischen Lederquadraten zeigen das Bild eines Kindes aus hohem Haus. Kaira stöhnt auf, bevor sie seufzend sagt: „Ja, ich bin eine elonische Prinzessin und genauso werde ich angezogen, hofiert und erzogen. Ich habe keine Rechte, nur Pflichten. Es wird mir gesagt, wo ich hingehen muss, wie ich laufen muss, wen ich treffen darf. Bitte erzähl mir, wie es in deinem Dorf ist. Wie ist dein Leben?“ Überrascht über das, was Kaira erzählt, geht Avalyn in die Hocke und fängt an zu erzählen. Von Mama und Papa, von der Arbeit auf dem Feld, von der Zeit, wenn nicht genug Essen da ist. Kaira hört sich alles staunend an und berührt dabei immer wieder die Hände von Avalyn. „Was ist das?“, fragt Kaira. „Das sind Schwielen“, meint Avalyn. „Die entstehen, wenn ich den ganzen Tag meine Eltern auf dem Feld unterstütze.“ – „Und warum läufst du barfuß?“, möchte Kaira als nächstes wissen. „Ich laufe sehr gerne und ich renne sehr gerne“, erklärt Avalyn. „Dabei ist es wichtig, dass ich den Boden direkt unter meinen Füßen spüre. Ich habe mal versucht, Schuhe zu tragen. Es war die Hölle, ich habe die Verbindung zur Erde verloren. Ich kam mir so hilflos vor.“ Kaira setzt sich zu Avalyn und so, als ob die Zeit keine Bedeutung hätte, stellen sie sich gegenseitig Fragen. Sie lachen und treiben Scherze und Avalyn vergisst alles um sich herum. Dann kommt ein Wächter, um sie abzuholen. Mit einem Schlag ist die Realität wieder da und Kaira nimmt Avalyn an die Hand. „Prinzessin Kaira, Ihr Vater wünscht, Euch und das Mädchen zum Start des Feuerwerks zu sehen“, kommt es steif vom Wächter. Die beiden Mädchen nicken sich zu und gehen der Wache hinterher.

Die Ungeduld zerfrisst Zun. Wo bleibt Jadoth!?, schreit er den Dolch an. Er wird kommen, Erbauer. Der Dolch versucht alles, um den Alten zu beruhigen, aber gleichzeitig kann sich Seelenbinder selber kaum halten. Die Seele ist nah. Das Gute, welches das Böse ausgleicht und so Gerechtigkeit bringt. Doch die Seele muss freiwillig kommen. Seelenbinder darf die Seele nicht töten, nicht bedrohen. Die Vereinigung muss freiwillig passieren. Da greift ein Mensch nach dem Dolch und die beißenden Iboga werden sofort aktiv. Ein Schrei ertönt, als dem Menschen plötzlich die Hand fehlt. Gedankenschnell schwebt der Dolch zu einem anderen Tisch und verschwindet zwischen dem Obst. Während der Alte lacht und meint: Geschieht dem Tölpel recht, was fasst er auch meinen Dolch an, bildet sich eine Traube von Menschen um den Verletzten. Jeder will wissen, was passiert ist, aber der Verletzte schaut nur auf seinen Arm und verliert dann das Bewusstsein. Das war knapp, meint der Dolch. Der Alte lacht einfach weiter. Er wird erst aufmerksam, als die Gäste das Festzelt verlassen. Wo wollen die hin?, fragt sich Zun. Los, hinterher! Vorsichtig erhebt sich der Dolch und schwebt links aus dem Zelt, um sich aus der Höhe einen besseren Überblick zu verschaffen. Zun sieht auf seiner Glaskugel, dass sich alle Gäste vor das Zelt begeben haben. Ein Feuerwerk wird gestartet und der Himmel wird in sämtlichen Farben erleuchtet. Die Zeichen der Götter werden in den Himmel gezaubert und als das Zeichen des Abaddon am Himmel erscheint, öffnet sich die Mondpassage und Fürst Jadoth kommt vom Himmel in Richtung des Festplatzes geschwebt. Als Zun das Ziel seiner Rache erkennt, gewinnt der Hass sofort wieder die Oberhand und er befiehlt Seelenbinder den sofortigen Angriff.


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Avalyn und Kaira stehen neben Fürst Menthu draußen vor dem großen Zelt. Auf ein Zeichen des Fürsten beginnt das Feuerwerk und Avalyn schaut mit großen Augen in Richtung Himmel. „So schön“, ruft das kleine Mädchen. „Da, schau“, sagt Kaira und zeigt mit ihrer Hand nach oben. Das Feuerwerk zeichnet das Symbol der Lyssa an den Himmel. Avalyn ist total begeistert und vergisst in diesen Sekunden alles um sich herum. „Das kenne ich“, ruft sie begeistert, „das ist das Symbol der Dwayna.“ – „Wir ehren alle Gottheiten mit diesem Feuerwerk“, kommt da der Einwurf von Fürst Menthu. Ganz zum Schluss erscheint das Symbol von Abaddon, dem Gott der Geheimnisse. Als Avalyn es erkennt, zuckt sie zusammen und ihr Gesicht wird schlagartig ernst. Kaira bemerkt die Situation und nimmt die Hand von Avalyn und sagt: „Du hast die Wahl, dich frei zu entscheiden. Du triffst die Entscheidung, die nur ein Mensch treffen kann.“ Avalyn fängt an zu keuchen: „Was sagst du da? Wer bist du?“ Das Mädchen antwortet: „Ich bin deine Freundin und deine Führerin zur Entscheidung.“ Avalyn fliegen in diesem Moment Tausend Fragen und Gedanken durch den Kopf, doch da beginnt das Chaos auszubrechen.


Die ersten Stimmen rufen: „Fürst Jadoth kommt!“ Erst sieht man im Zentrum des Mondes eine Silhouette, die immer größer wird. Je mehr Sekunden vergehen, desto deutlicher wird das Bild. Ein Margoniter kommt auf den Strahlen des Mondes in Richtung des Festplatzes herunter. Kurz bevor Fürst Jadoth auf der Erde ankommt, steigt ein Dolch auf und fliegt in vollem Tempo auf ihn zu. Die Menschen schreien auf und erst in letzter Sekunde kann Jadoth dem Dolch ausweichen. Schon nimmt der Dolch wieder Kurs auf den Fürsten und diesmal ist er so schnell, dass der Margoniter nicht mehr ausweichen kann. Aus dem Mond schießt in derselben Sekunde eine Tentakel und zieht Jadoth nach oben. Abaddon persönlich greift ein, um seinen ersten Margoniter zu schützen. Der Dolch bleibt einen Augenblick vibrierend in der Luft hängen. Alle Augen sind auf ihn gerichtet. Jeder verfolgt gebannt, was als nächstes passiert. „Der Dolch bewegt sich wieder!“, schreit eine Stimme aus der Menge. Seelenbinder steigt kurz in die Luft, senkt seine Spitze dann in Richtung der Menschen, die unten stehen, und in diesem Augenblick erkennt Avalyn die Wahrheit. Sie ist das nächste Opfer!


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Zun schreit gepeinigt auf. Wieder wurde ich um meine Rache gebracht! Dafür wird ein jeder hier auf diesem Fest mit seiner Lebensenergie zahlen. Ich verlange als dein Erbauer, dass du jeden hier auf diesem Festplatz tötest und mit der Seele fängst du an. – Das kannst du nicht tun, ruft der Dolch verzweifelt. So funktioniert die Vereinigung nicht. – Ich will keine Vereinigung, schreit Zun, ich will die Lebenskraft und dass alle anderen mich fürchten und mir dienen. Dazu ist es notwendig, meine Macht zu zeigen. Jetzt beginne dein grausam-schönes Werk. Ich, dein Erbauer, befehle es dir!


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Mit schreckgeweiteten Augen sieht Avalyn den Dolch auf sich zufliegen. Kein Schrei kommt über ihre Lippen. Der letzte Gedanke gilt ihren Eltern, bevor sie ihre Augen schließt. Es vergehen Sekunden. Aller Lärm, alle Hektik sind auf einmal verschwunden. Avalyn spürt keinen Einstich. Da erreicht eine Stimme ihr Ohr. „Du kannst die Augen ruhig aufmachen.“ Das war die Stimme von Kaira. Vorsichtig, ganz langsam, öffnet Avalyn ein Auge. Die Welt um sie herum ist wie eingefroren. Keiner bewegt sich. Und der Dolch? Seelenbinder schwebt zwanzig Zentimeter von ihrem Herzen entfernt in der Luft und rührt sich nicht. Da stupst sie etwas von der Seite an. Wirbelwind! „Er ist mein Wächter, den ich dir an die Seite gestellt habe, um sicherzugehen, dass du wirklich die Möglichkeit der Entscheidung hast.“ Da schaut Avalyn nach rechts und sieht Kaira. „Wer bist du?“, fragt Avalyn. Da fängt es um die Tochter von Fürst Menthu herum an zu flimmern und das Mädchen wächst zu einer Frau heran. Die Augen von Avalyn werden plötzlich groß und sie sackt auf die Knie, als sie erkennt, wer vor ihr steht. „Lyssa!“ Avalyn fängt an zu weinen. Die Göttin kniet sich neben Avalyn hin und nimmt sie in die Arme. „Es kann dir nichts passieren“, flüstert sie leise in das Ohr von Avalyn. „Ich werde dich beschützen, solange du es möchtest.“


Während Avalyn sich ihre Hände vor das Gesicht hält, dringt leise die Stimme von Lyssa an ihr Ohr. „Weine ruhig, Avalyn.“ – „Ich verstehe das alles nicht“, kommt es dem Mädchen stoßweise über ihre Lippen. „Beruhige dich erst einmal. Wenn du soweit bist, werde ich dir alles erklären. Du hast so viele Fragen und du verdienst Antworten.“ Avalyn spürt die Wärme und das Gefühl des Vertrauens, welches von Lyssa ausgeht. So wird Avalyn plötzlich müde und schläft ein.

Als Avalyn wieder aufwacht, sitzt sie auf der Rückseite ihres Elternhauses. Die Sonne scheint und nur wenige Wolken bewegen sich am Himmel. Der Wind wieget das goldene Getreide auf den Feldern hinter dem Haus sanft hin und her und die Äste der Bäume und Sträucher beugen sich unter dem Gewicht der Früchte. Viele weitere Pflanzen stehen in voller Blüte. Verwundert schaut Avalyn nach rechts. Direkt neben ihr liegt Wirbelwind eingerollt und schläft. „Es wird eine gute Ernte geben im diesem Jahr.“ Erschrocken dreht Avalyn sich um. Lyssa steht nur drei Schritte hinter ihr. Schon will Avalyn auf die Knie fallen, aber Lyssa schüttelt nur den Kopf. „Bitte, komm mit mir, ich möchte dir einiges zeigen.“ Lyssa streckt die Hand aus, die Avalyn nur zögerlich ergreift. „Bitte vertrau mir, Avalyn.“ Zusammen gehen sie auf das Feld und Lyssa beginnt zu erzählen. „Als Grenth, der Gott des Todes, für einen seiner Schnitter eine neue Waffe brauchte, überlegte er lange, was zu seinem Schnitter passt.“ – „Du hast ihm damals bei dem Rezept zu Seelenbinder geholfen“, kommt es da von Avalyn. „Du hast also bereits die Legende gehört, die Abaddon verbreitet hat. Dieser Dolch sollte etwas Besonderes sein. Keine Waffe sollte sich mit seiner Macht messen können. Aus diesem Grund hat Grenth dem Dolch ein eigenes Bewusstsein geschenkt. Dieses Bewusstsein ist wie ein Gefäß, nur dass hier keine Flüssigkeit eingefüllt wird, sondern ein abgrundtief böses Herz und eine herzensgute Seele, die darin zusammengeführt werden. Beide zusammen sollen die Werte von Grenth verkörpern. Gerechtigkeit gegenüber jedem üben und die Welt und die Menschen so sehen, wie sie wirklich sind. Durch mehrere Ereignisse abgelenkt, wurde der Dolch aber nie gebaut und so kamen die Baupläne als ein weiteres Geheimnis zu Abaddon.“ – „Kehtu hat erzählt, dass ein böser Mann sie dort gestohlen hat, stimmt das?“, möchte Avalyn wissen. Lyssa bleibt stehen und geht auf die Knie, um Avalyn in die Augen zu sehen. „Einen Gott, der alle Geheimnisse kennt, kann man diesen bestehlen?“, fragt Lyssa zurück. Ohne eine Antwort abzuwarten, erzählt Lyssa weiter. „Ich beobachte die Entwicklung seit einiger Zeit mit Sorge, Avalyn. Seelenbinder ist mächtig und mit einem tief schwarzen Herzen, wie dem von Zun, kann er ganz Elona und vielleicht noch mehr in ein dunkles Zeitalter führen.“ – „Warum zerstörst du den Dolch nicht einfach?“, will Avalyn wissen. Mit einem Lächeln antwortet Lyssa: „Wir Götter haben untereinander verabredet, uns nicht mehr selbst in die Geschicke der Menschen einzumischen. Ihr sollt, könnt und müsst mit euren Schwierigkeiten selber fertig werden. Dies ist eine Ausnahme, weil Grenth genauso wie Abaddon an dem Vorgang beteiligt ist. Nur deshalb darf ich überhaupt eingreifen. Abaddon hat lange nach einem Menschen gesucht, der als gute Seele für den Dolch dienen kann. Als er dich fand, hat er sein Zeichen unter deinen Füßen platziert. Dieses Zeichen sollte dich kenntlich machen, kurz bevor du dich entscheiden musst.“ Avalyn bleibt schlagartig stehen, als sie versteht, was Lyssa von ihr verlangt. „Nein! Das will ich nicht!“ Das Entsetzen in ihrer Stimme hallt noch lange nach in den Ohren von Lyssa. Avalyn rennt los, so schnell wie noch nie zuvor in ihrem Leben. Sie will nur weg und in Ruhe gelassen werden.


Waren es Sekunden, Minuten, Stunden oder ist überhaupt ein Augenblick vergangen? Als Avalyn endlich stehen bleibt, sind die Felder schon lange aus dem Blickfeld verschwunden. Unter Bäumen legt sie sich nieder und schaut in den Himmel. „Wie können die Götter so etwas von mir verlangen? Ich bin zwölf! Ich liebe Mama und Papa! Wo seid ihr? Bitte helft mir.“ Doch niemand antwortet Avalyn. Die Sonne beginnt zu versinken und es wird langsam dunkel. Die Gedanken fliegen immer noch wild durch den Kopf von Avalyn. Ein Knacksen im Gebüsch lässt sie aufhorchen. Da schiebt sich das Gesicht von Wirbelwind zwischen Ästen hervor. Das Mädchen springt auf und umarmt den Raptor, nur um im nächsten Moment zurückzuspringen. „Du bist Teil des Plans! Kann ich dir vertrauen?“, fragt das Mädchen in Richtung des Raptors. Wirbelwind legt sich Avalyn zu Füßen und schaut sie traurig an. Sie fühlt, dass Wirbelwind ihr etwas sagen will. Es ist wie damals, kurz bevor der Raptor geschlüpft ist. Gedankenbilder erscheinen wieder im Kopf: Bitte vertrau mir. In diesem Augenblick trifft Avalyn eine Entscheidung. „Komm mit, Wirbelwind.“ Zusammen stehen sie auf und laufen auf die Felder zu.


Als sie endlich am Haus ankommen, ist es schon dunkel. Eine Lampe neben der Eingangstür spendet Licht und Avalyn sieht, wie Lyssa in einem Schaukelstuhl vor dem Haus sitzt. Erwartungsvoll schaut die Göttin das Mädchen an und Avalyn beginnt zu erzählen. „Ich habe mich entschieden und ich habe Wünsche.“ Lyssa lächelt und durch einen Zauber hat sie plötzlich eine Moa-Feder und ein Pergament in der Hand. „Ich will, dass es meinen Eltern und meinem Dorf gut geht. Sie sollen ernten können und keine Angst mehr haben vor Hunger und Dürre. Ich will, dass meine Eltern wissen, dass es mir gut geht. Ich will sie besuchen können von Zeit zu Zeit.“ Lyssa nickt und meint: „Ich sehe, dass dir noch etwas auf dem Herzen liegt.“ – „Kann ich Wirbelwind mitnehmen?“ Die Augen der Göttin schließen sich für einen kurzen Moment. „Es wird zu einem Ungleichgewicht im Dolch führen. Das Gute wird stärker sein als das Böse. Aufgrund der Ereignisse hat Grenth zugestimmt. Seelenbinder wird ab dem Zeitpunkt der Verschmelzung, keine Waffe des Grenth sein sondern eine meiner legendären Waffen!“ Lyssa steht von ihrem Schaukelstuhl auf und verwandelt sich wieder in Kaira. „Ich werde versuchen, deine Wünsche zu erfüllen im Rahmen dessen, was mir erlaubt ist. So frage ich dich, Avalyn, willst du freiwillig den Bund mit Seelenbinder eingehen, um als Teil des legendären Dolches an meiner Seite zu kämpfen?“ – „Wird es weh tun?“, fragt Avalyn. Lyssa, nun wieder in der Gestalt des Mädchens Kaira, schüttelt den Kopf. „Dann will ich es.“


*


Einen Augenschlag später ist Avalyn wieder auf dem Fest der Lyss. Seelenbinder schwebt zwanzig Zentimeter von ihrem Herzen entfernt. Da dringt die Stimme von Kaira wieder an das Ohr von Avalyn. „Schließ die Augen, du wirst keine Schmerzen haben. Ich verspreche es dir.“ – „Wo ist Wirbelwind?“, ruft Avalyn. „Der Raptor ist schon in Seelenbinder aufgegangen und bereitet deine Ankunft vor“, kommt sofort die Antwort. Und dann spürt Avalyn, wie sie etwas berührt. Es tut tatsächlich nicht weh. Es wird kurz kalt um sie herum und als sie die Augen wieder aufmacht, steht sie auf einem Feld, das Haus ihrer Eltern in Sichtweite. Wie kann das sein?, fragt sich Avalyn. Da fragt der Dolch: Bist du meine Seele? Avalyn wundert sich, wo die Stimme herkommt, antwortet dann aber schnell: Ja, ich bin deine Seele. Avalyn spürt die Freude des Dolches. „Wirbelwind!“ Von Weitem sieht Avalyn den Raptor heranspringen. Als der Raptor bei ihr ankommt, sieht das Mädchen ein Stück schwarzen Stoff an seinen Zähnen hängen. „Was hast du getan?“, fragt Avalyn doch der Raptor schüttelt sich nur und rollt sich vor ihren Füßen zusammen. Da erscheint Kaira plötzlich bei den beiden. „Seelenbinder ist komplett und einsatzbereit, dank dir, Avalyn. Ich möchte dir danken. Du kannst über das Haus deiner Eltern einmal im Jahr für drei Tage den Dolch verlassen und bei ihnen sein. Sie wissen Bescheid und vermissen dich sehr. Zun, der alte Nekromant wurde in einen kleinen Teil des Dolches verbannt, aus dem er nicht heraus kann. Wenn du es möchtest, steht er dir als Berater in einigen Situationen zur Verfügung. Allerdings hat er keine Macht mehr über den Dolch, da durch Wirbelwind das Potenzial des Guten ein leichtes Übergewicht hat. Ich wünsche dir alles Gute, Avalyn. Wann immer ich dich brauche, werde ich dich rufen.“ Damit verschwindet das Abbild der Lyssa. Avalyn dreht sich herum und rennt los. „Komm, Wirbelwind“, schreit sie dem Raptor zu, „lass uns um die Wette laufen!“

Königin Jennah sitzt erschöpft auf ihrem Thron. Ministersitzungen, Strategiebesprechungen und Bittsteller hatten sich den ganzen Tag über abgewechselt. Vorsichtig streicheln ihre nackten Füße über den Boden. Einmal wieder so laufen wie früher … Wieder einmal frei sein. So lange war sie jetzt schon in dieser Illusion von einem Körper unterwegs im Auftrag von Lyssa. Der letzte Auftrag, den die Göttin ihr gegeben hatte, bevor sie sich wie die anderen Götter auch zurückgezogen hatte: Tyria beschützen und dafür sorgen, dass die Götter nicht vergessen werden. Diesen letzten Auftrag nahm sie sehr ernst, aber jetzt war es Zeit zu verschwinden. Ein besonderes Fest stand an und Lyssa hatte als letztes Geschenk dafür gesorgt, dass Avalyn ihre Eltern trotz der vielen Jahre immer wieder diese drei Tage besuchen kann. Ein Blick links, ein Blick rechts. Die Projektion des Körpers löst sich auf und ein Dolch erscheint, der mit atemberaubender Geschwindigkeit in den Himmel fliegt und ein kleines Mädchen mit sich nimmt, das nach vielen erfolgreich erledigten Aufgaben kurz nach Hause fliegen darf. Es ist wieder Wintertag. Mama und Papa warten schon auf ihr kleines Mädchen.