Ostern 2018: Geschichte – Prolog

Im Jahre 1327 AE erschien Scarlet Dornstrauch, um mit ihrer Flotte Löwenstein anzugreifen.

Eine Sylvari, angetrieben von einem einzigen Gedanken: Mordremoth, den großen Dschungel-Drachen, aus seinem Schlaf zu erwecken. Löwenstein wiederum, die große und stolze freie Stadt, wehrte sich mit allem, was ihm zur Verfügung stand. Der Kampf wogte hin und her und die Luftschiffe von Scarlets Armee wüteten fürchterlich mit Feuer und Magie. Sie zerstörten dabei große Teile der Stadt. Männer und Frauen wurden getötet, Kinder wurden zu Waisen.

Als Scarlet dann endlich von einigen mutigen Helden besiegt werden konnte, war es für viele zu spät. Die Leylinien-Kreuzung unter dem Sanctum-Hafen von Löwenstein schickte ein Signal an Mordremoth und der Dschungel-Drache erwachte.

Von allen anderen unbemerkt wanderten kurz nach dem Angriff zwei Frauen durch Löwenstein. In alte Gewänder gewickelt beachtete sie niemand. Vom westlichen Bezirk aus liefen sie weiter zur Prachtvollen Piazza, bis sie das Fort Marriner erreichten. Sie spendeten Trost, halfen Verletzten und beobachteten die vom Kampf gezeichneten Menschen.

Bewohner Löwensteins, welche anderen in ihrer Not halfen, fanden plötzlich einige Goldstücke oder einen Brief mit lieben Worten in ihrer Tasche. Andere wiederum, die ohne Rücksicht das Leid noch vergrößerten und die Schutzlosen ausnutzten, hatten plötzlich nur noch Pech. Sie wurden selbst bestohlen oder hatten das Geld, das sie vorher noch anderen abgenommen hatten, wieder verloren.

Es waren Dwayna und Lyssa, die unerkannt durch Löwenstein streiften, um zu sehen, wie die Bewohner mit dem Unglück fertig wurden.

Da fiel den beiden Göttinnen ein Mädchen von vielleicht zehn Jahren auf. Es hielt einen Vogel in der Hand, welcher den rechten Flügel gebrochen hatte. Vorsichtig und ganz leise flüsterte das Mädchen dem Vogel ins Ohr: „Mama und Papa Vogel sind nicht mehr da. Du bist genau wie ich alleine. Ich werde auf Dich aufpassen.“ Als Dwayna dies hörte, rann ihr berührt von dem kleinen Mädchen eine einzelne goldene Träne über die Wange. Sie fing diese auf, bevor sie zu Boden fallen konnte und ging damit zu dem Mädchen, das kurz mit großen angsterfüllten Augen nach oben blickte.

„Wer bist Du?“, fragte das Mädchen. Dwayna kniete nieder, bis sie mit dem kleinen Mädchen auf Augenhöhe war. Dann sagte sie: „Ich bin eine Priesterin der Dwayna und ich habe gehört, was Du dem kleinen Vogel gesagt hast. Die Göttin sagt, wer sich für das Leben einsetzt und es schützt, soll ihren Segen haben bis zum Ende der Zeit.“

„Kann Dwayna meinem Vogel helfen?“, fragte das kleine Mädchen. Daraufhin nahm Dwayna die goldene Träne und strich damit über den gebrochenen Flügel des Vogels. Ein goldener Schein, ein helles Leuchten und der Vogel stieg hoch in die Luft, umkreiste alle dreimal und ließ sich dann auf der Schulter des kleinen Mädchens nieder. Das Mädchen freute sich und strich vorsichtig über das Gefieder des Vogels. „Wie heißt Du?“, fragte Dwayna das Mädchen. „Kaia“, kam da als Antwort. „Kaia, ich bringe Dich zum Tempel der Dwayna in Götterfels. Dort wird man Dich aufnehmen und ausbilden.“ Und so geschah es, Dwayna und Lyssa nahmen die kleine Kaia mit sich.

Nur einige Tage später erschien die Göttin Dwayna Königin Jennah in einem Traum und beauftragte diese, ein Waisenhaus für all jene errichten zu lassen, die ihre Eltern beim Angriff auf Löwenstein verloren hatten. Drei Monate später wurde das Waisenhaus „Herz der Königin“ eröffnet. Bis zum heutigen Tag übernehmen dort die Priester der Dwayna die Betreuung aller Kinder, die ihre Eltern verloren haben, egal welchem Volk sie entstammen.

1. Das Waisenhaus

Wir schreiben das Jahr 1330 AE im Zeitalter des Kolosses. Der Schnee fällt in großen Flocken auf den Boden und die Kinder sitzen am wärmenden Kamin. Die Priesterinnen und Priester der Dwayna beobachten sorgsam das Geschehen, immer bereit einzugreifen, wenn es nötig sein sollte. Die ersten Kinder gähnen bereits, denn der Tag war lang und so gehen die ersten Kinder freiwillig ins Bett. Silas, ein Menschen Junge bleibt mit seinen beiden Freundinnen noch eine Weile am Kamin sitzen und beobachtet die Priesterinnen. „Ist euch aufgefallen, wie nervös die Priesterinnen in den letzten Tagen sind?“, fragt er in Richtung von Grimma Flinkepfote, die mit 15 Jahren ein Jahr älter ist als er selbst. Grimma wackelt mit ihren Ohren, was bei Silas immer etwas Neid hervorrief. Da er kein Charr war, würde er dieses Wackeln eben niemals nachmachen können. „Sie tuscheln die ganze Zeit schon“, kam da von Isengora, der Dritten im Bunde. Isengora, eine Norn von 13 Jahren, war jetzt schon aufgrund ihrer Abstammung ein ganzes Stück größer als Silas und Grimma. „Es gibt Gerüchte“, berichtet Grimma, „Königin Jennah braucht Geld, habe ich gehört. – Um Götterfels zu verteidigen … Die Angriffe des Weißen Mantels aus Richtung des Doric Sees werden immer heftiger.“ – „Und was haben wir damit zu tun?“, fragt Silas. Grimma wackelt wieder mit ihren beiden Ohren, als sie weitererzählt: „Ich habe Priesterin Kutay mit Priester Hazadim sprechen hören. Die Königin hat die Zahlungen an unser Waisenhaus immer weiter reduziert. Jetzt bekommen die Priester seit vier Wochen überhaupt kein Geld mehr.“ Isengora hebt ihre Hand, die sie zu einer Faust geballt hat und sagt: „Na dann wird es Zeit mit dem Weißen Mantel einmal ordentlich darüber zu diskutieren, wer hier das sagen hat.“ – „Ach halt die Klappe, Isengora. Bitte erzähl weiter, Grimma.“ Isengora senkt wieder ihre Faust und schaut erwartungsvoll die Charr an. „Viel war nicht mehr zu hören, weil sie mich wenig später bemerkten. Ich habe nur noch mitbekommen, dass das vorhandene Geld vielleicht noch vier Wochen lang ausreicht, dann müssen sie das Waisenhaus schließen.“ – „Und was passiert dann mit uns?“

In diesem Moment kommt Priester Hazadim um die Ecke. „Vertraut auf Dwayna. Ja, die Situation ist schlimm, ich will euch nicht belügen, aber ich hoffe und bete jeden Tag, dass unsere Göttin eine Lösung findet. Und jetzt ab ins Bett, ihr Rabauken. Morgen ist ein neuer Tag, inklusive Unterricht, und da will ich nicht, dass einer von euch wieder einschläft.“ Mit einem Murren und leisen Knurren gehen die drei auf ihre Zimmer. Alle denken an das Gleiche: Vier Wochen noch – und dann? Wir sind Kinder, wer hilft uns? Werden wir vielleicht in unterschiedliche Familien geschickt? Kommen wir zurück zu unseren Völkern?

Als die drei in ihren Betten liegen, können sie lange Zeit keinen Schlaf finden. Zu düster und zu wild drehen sich ihre Gedanken um das zuvor Gehörte. Doch dann kommt der Strudel der Dunkelheit und reißt sie mit sich. Jeder von ihnen geht auf eine Reise – oder bekommen sie etwa Besuch?

2. Der Traum

Isengora erwacht in einer Landschaft voller Schnee. Die Berge im Hintergrund steigen hoch bis in den blauen Himmel. Auf der linken Seite erhebt sich ein grüner Wald und auf der rechten Seite sieht sie einen See. Die Bäume biegen sich im Wind und trotzdem ist ihr nicht kalt. Die Sonne am blauen Himmel wärmt sie und Isengora hat das Gefühl das erste Mal wieder Zuhause zu sein. Die Zittergipfel! Ein Seufzen erklingt aus ihrem Mund. Drei Jahre ist es her, seitdem sie zum letzten Mal hier war. Damals, als Mama und Papa unbedingt nach Löwenstein wollten, nahm das Unglück seinen Lauf.

Vorsichtig setzt die Norn einen Fuß vor den anderen. In einiger Entfernung steht eine Hütte. Ob die Unterkunft wohl zu einem bestimmten Gehöft gehört? In der Ferne ist der Ruf einer Eule zu hören. Langsam marschiert Isengora vorwärts, immer weiter der Sonne entgegen. Der Wind streicht durch ihr Haar und verstärkt ihr Gefühl, zuhause zu sein. Ja, sie vermisste die schneebedeckten Zittergipfel. Nach ein paar Schritten blickt sie zurück und schaut auf ihre Fußspuren im glitzernden Weiß. Komisch – mitten im Schnee enden die Spuren, ganz plötzlich. Da erklingt wieder der Ruf der Eule. Isengora schaut nach vorne und läuft weiter auf die Hütte zu. Aus dem Kamin steigt Rauch auf und die Nase der kleinen Norn vernimmt zum erstmals seit langer Zeit wieder den Geruch von Greifen-Ei Omelett. Vorsichtig geht Isengora weiter auf die Hütte zu. Der Duft ist zu verführerisch und so läuft das Mädchen, das eines Tages eine große Wächterin werden will, immer schneller. Als sie an der Hütte ankommt, reißt sie die Tür auf und das Erste, was sie sieht, ist ein Tisch mit einem Stuhl. Auf dem Tisch steht ein Teller mit einem Greifen-Ei Omelett und daneben noch etwas anderes, was sie nicht sofort erkennen kann. Seltsam – es ist eine Eule, die auf dem Tisch sitzt. Einen Augenblick lang schaut die Eule Isengora an, dann blickt sie wieder auf das Greifen-Ei Omelett, sodass die kleine Norn den Eindruck hat, die Eule bittet sie einzutreten und sich an den Tisch zu setzen. Mit vorsichtigen Schritten nähert sich Isengora dem Tisch. Dabei behält sie die Eule die ganze Zeit im Auge. Der Duft des Essens wird immer intensiver und irgendwann kann sie sich nicht mehr beherrschen. Mit einem letzten Satz springt sie auf den Stuhl und schnappt sich ein Messer, um das Omelett in der Hälfte zu zerteilen. Währenddessen sitzt die Eule weiterhin ganz entspannt auf den Tisch und schaut dem kleinen Gast beim Essen zu. Etwa zehn Minuten vergehen, bevor das Omelett nur noch die halbe Größe hat und die Neugier der Norn wieder die Oberhand gewinnt. Isengora setzt sich aufrecht hin, legt das Messer zur Seite und schaut die Eule an. „Von Mama und Papa weiß ich, dass wir zu den Geistern der Wildnis beten sollen, doch sie antworten selten.“ Kaum hat sie den Satz ausgesprochen, da springt die Eule näher. Vorsichtig, als ob sie Isengora nicht verschrecken möchte, kommt sie näher auf das Mädchen zu. Voll Vertrauen streckt die kleine Norn ihren Arm aus und die Eule erhebt sich kurz in die Luft, bevor sie sich auf dem ihr angebotenen Landeplatz niederlässt. Ein letzter Ruf der Eule erklingt in den Ohren der Norn, als sich plötzlich ihre Umgebung verändert. Die Hütte verschwindet und Isengora schwebt in der Luft über den See hinweg, den sie auf ihrem Weg zu der Hütte passiert hatte. Da kommt das Gesicht einer Eule auf sie zu. Strahlend hell und mächtig, Ehrfurcht gebietend aber gleichzeitig auch unendlich weise. Kurz bevor sie mit dem Gesicht kollidiert, wird sie abgebremst. Die Eule blickt tief in Isengoras Augen und dann erklingt eine Stimme in ihrem Kopf. „Ich bin der Geist der Eule. Normalerweise spreche ich durch meinen Havroun, aber nach meinem Kampf gegen Jormag vor langer, langer Zeit sind nur noch Splitter meines Geistes übrig. An einen dieser Splitter hat sich Dwayna die Göttin des Lebens und der Heilung gewand. Die Menschen-Göttin ist verzweifelt. Liebe droht zu Verzweiflung zu werden, der Glaube zu einem verloren Gut. Gesetze verlieren ihre Gültigkeit und in allen Fällen sind Kinder betroffen – viele haben alles verloren. Dwayna will das nicht weiter mit ansehen und so hat sie den Rat der Götter der Menschen einberufen. Dieser hat die Entsendung von sechs Gaben beschlossen, die jeweils in einem Ei fest verschlossen und versiegelt sind. Nur Kinder mit offenen Herzen und etwas Heldenmut werden diese Eier finden und öffnen können, um die Gaben genau ein Mal nutzen zu können. Du, Isengora, bist eines dieser Kinder. Dich habe ich auserwählt. Deine Reise beginnt bald, doch du wirst nicht alleine sein. Gute Freunde werden dich begleiten.“

Die kleine Norn ist überwältigt. Sie ist sich nicht sicher, was sie sagen oder machen soll. Während das Gesicht der Eule sich langsam zurückzieht, hört sie noch ganz schwach die Stimme in ihrem Hinterkopf: „Das Ei der Geheimnisse führt Euch. Ihr müsst zur Schwingenwarte.“

3. Schatten der Vergangenheit

Grimma Flinkepfote liegt, wie immer wenn sie einschlafen will, eingerollt auf ihrem Oberbett und schnurrt. Doch im Gegensatz zu sonst, sträubt sich ihr Nackenfell und ihre Augen bleiben einen Spalt weit offen. Die Geschehnisse des Abends lassen der jungen Charr keine Ruhe. Es muss doch möglich sein, Geld zu beschaffen. Vielleicht sogar direkt vom Weißen Mantel. Wenn ich nur durch das Tor zum Doric-See kommen könnte, dann würde ich … Mit diesen letzten Gedanken schläft Grimma ein. Als sie wieder erwacht, steht die Sonne hoch am Himmel und brennt gnadenlos auf das Land. Ihr goldenes Fell mit den schwarzen Punkten versucht diese Hitze, so gut wie möglich, abzuhalten. In einiger Entfernung steht auf ihrer rechten Seite ein dichter Wald, der kühlenden Schatten verspricht. Weiter links sieht die junge Charr mehrere Verschlinger-Junge miteinander kämpfen, bewacht von zwei älteren Verschlingern, die aber keine Notiz von ihr nehmen. In diesem Moment schaut Grimma nach unten und bemerkt das Gras, auf dem sie steht. Es fühlt sich so weich an und es erinnert sie sehr an ihre Heimat, an die Flammenkamm-Berge. Grimma hat das erste Mal seit drei Jahren wieder das Gefühl zuhause zu sein und dieses Gefühl macht sie gerade sehr glücklich. Die Charr rennt los in Richtung Wald. Unterwegs schlägt sie Haken, um Gegner, die tatsächlich nur in ihrem Kopf existieren, zu verwirren. Einfach eine junge Charr sein und sich austoben, einfach Zuhause Kind sein. Das Zuhause, was sie in den letzten drei Jahren so sehr vermisst hat. Als Grimma endlich völlig außer Atem stehen bleibt, ist sie weit in den dichten Wald vorgedrungen. Von allen Seiten dringen Geräusche an ihre Ohren. Manche sind Grimma vertraut, andere hat sie nie zuvor gehört. Unruhig wackeln ihre Lauscher hin und her. Es droht Gefahr! Vorsichtig geht sie weiter. Langsam tasten ihre Pfoten über den Waldboden, ganz darauf bedacht, selbst kein verdächtiges Geräusch zu machen. Instinktiv springt sie in die Höhe, als ein Pfeil neben ihr in den Boden einschlägt. Kaum, dass sie wieder auf ihren Pfoten gelandet ist, stürmt sie los. Ihr Weg führt sie in die Richtung, aus welcher der Pfeil gekommen war. Wer schließt hier auf mich? Da zischt es wieder und die Charr springt rechts an einem Baum vorbei, als der nächste Pfeil auch schon angeflogen kommt und sich in eben diesen Baum bohrt. Dort – ein Schatten! So schnell sie kann, stürmt die Grimma auf den Schatten zu und holt mit ihren Pfoten aus. Ihre Krallen schauen wie kleine Dolche zwischen dem Fell hervor. In dem Moment, als sie den Schatten mit den Pfoten berührt, wird sie gepackt und hochgeschleudert. Grimma faucht, als sie feststellt, dass sie in einem Netz gefangen ist. Mit aller Macht versucht sie, die Seile zu durchtrennen, aber das Netz hält allen Versuchen stand. Weder mit ihren Krallen noch mit ihren Zähnen kann sie ein Loch in das Netz reißen. Vor lauter Wut und Aufregung hört sie nicht auf herumzuzappeln und verheddert sich damit immer tiefer in das Netz, bis sie sich schließlich gar nicht mehr bewegen kann. Da hört Grimma Flinkepfote Schritte. „Hallo, wer ist da?“ Doch niemand antwortet. Dafür hört Grimma Knistern und der Geruch von brennendem Holz vermischt mit dem Duft von Verschlinger-Eiern steigt ihr in die Nase. Bei Brandor Grimmflamm, wie lange war es her, dass sie Verschlinger-Eier zum Frühstück hatte? Das muss gewesen sein, als der Primus ihres Fahrar sie mit nach Löwenstein genommen hat, um ihr eine große Stadt der Menschen zu zeigen. „Hast du dich beruhigt?“, ertönt in diesem Moment von unten eine Stimme. Das war eindeutig ein Charr, der da zu ihr sprach, stellt Grimma überrascht fest. „Wer bist du?“, will die Charr wissen. „Ich habe dich etwas gefragt“, kommt von dem Fremden als Antwort. „Ich antworte nicht jedem verlausten Flohfell“, faucht Grimma als Antwort. „Vielleicht gehörst du sogar zur Flammen-Legion!“ In diesem Moment gibt es einen Ruck an dem Netz und Grimma findet sich im freien Fall, bevor der Boden sie unsanft abbremst. Gerade als sie sich aufrichten will, landet eine einzelne Pfote auf ihrem Rücken und drückt sie zu Boden. Das Gesicht eines großen männlichen Charr taucht vor ihren Augen auf und zwei große Augen funkeln sie böse an. „Niemand“, flüstert der Charr ihr leise ins Ohr, „niemand – hörst du – nennt Brandor Grimmflamm ein Mitglied der Flammen-Legion!“ In diesem Moment erkennt Grimma den Charr, welchen sie schon auf so vielen Statuen und in Büchern gesehen hatte. Grimma stammelt nur: „Brandor? DER Brandor Grimmflamm? – Das kann nicht sein, du bist seit über 200 Jahren tot!“ Die Pfote, die bisher tonnenschwer auf Grimma lag, verschwindet, sodass sie sich aufrichten kann.

Auf seinen Wink hin, geht Grimma drei Schritte auf Brandor zu, in Richtung des Lagerfeuers und setzt sich. Brandor schaut erst die Verschlinger-Eier an und dann Grimma. „Du musst hungrig sein, nimm dir doch ein paar Eier.“ Vorsichtig tut Grimma, wie ihr geheißen und klopft die Schale eines Eies auf. Herrlich, dieser Duft! Wie lange hat sie diesen süßen Geschmack schon vermisst? Schneller als gedacht ist das Ei gegessen und Brandor schiebt ihr zwei weitere Eier herüber. Als Grimma das dritte Ei öffnet, um es ebenfalls genüsslich zu verspeisen, beginnt Brandor zu erzählen: „Am Ende des Krieges gegen die Flammen-Legion lautete meine Botschaft: Es gibt keine Götter für die Charr. Viele Jahre bin ich anschließend mit meinem Trupp umhergezogen, um die Reste der Flammen-Legion zu jagen. Umber Grimmherz traf es dann als Ersten. Wir waren unvorsichtig und hörten den Riesenverschlinger nicht kommen. Mit dem ersten Angriff streckte er Umber nieder. Ein halbes Jahr später traf es Mähn Grimmzunge. Sein Stab zerbrach, als ein Zerstörer vor uns aus der Erde brach. Der Lavafontäne, die vom Zerstörer ausgelöst wurde, konnte Mähn nichts mehr entgegensetzen. Sied Grimmwald, der Letzte, der von meinem ruhmreichen Trupp noch übrig geblieben war, schaute mich abends am Lagerfeuer lange an. Dann nickte er und verschwand ohne ein Wort zu verlieren. Ich habe ihn niemals wiedergesehen. Drei Tage lang wanderte ich durch die Flammenkamm-Berge, bis ich zu einer Lichtung kam. Tiere aller Art waren hier friedlich versammelt. Es war ein Ort der Ruhe und des Friedens. Als Waldläufer konnte ich keinen besseren Platz finden. Ich legte mich unter einen Baum, schloss die Augen und wachte nie wieder auf.

Doch vor kurzem wurde meine Ruhe gestört, ein Wesen meldete sich bei mir und bat mich, für eine sehr wichtige Mission jemanden aus meinem Volk auszusuchen, der bestimmte Fähigkeiten aufwies. Ich habe lange gesucht und, als ich die Hoffnung eigentlich schon aufgeben wollte, fand ich dich. Du bist wild und ungestüm, handelst, bevor du denkst, und fragst erst, nachdem alles in Schutt liegt, und doch: Du hast Kraft, Mut und ein gutes Herz. Du stehst ein für Freundschaft, Gemeinschaft und Miteinander. Deshalb habe ich dich ausgesucht. Du wirst zusammen mit zwei deiner Freunde auf ein großes Abenteuer gehen. Nichts ist so, wie es scheint. Der Tod ist nicht das Ende und hinter der Maske der Täuschung verbirgt sich die Wahrheit. Die sechs Götter der Menschen, haben sechs besondere Eier versteckt, die euch bei dem Abenteuer helfen werden. Zwei von diesen Eiern kannst nur du finden und öffnen. Also überlege dieses Mal, bevor du handelst.“

Grimma bemerkt, wie die Form Brandors langsam durchsichtig wird. „Meine Zeit ist um, die Nebel rufen mich zurück.“ – „Warte Brandor!“, ruft Grimma verzweifelt. „Wo soll ich mit der Suche anfangen?“ – „Kormir wird Euch helfen“, kommt da ein letzter schwacher Ruf.

4. Kein Sinn zu erkennen

Silas, der Junge mit den langen blonden Haaren, liegt in seinem Bett auf dem Rücken und starrt die Decke an. Die Hände hinter dem Kopf zusammengelegt träumt er mit geöffneten Augen. Er träumt von der Zeit, als Mama und Papa noch lebten. Von der Zeit, als seine große Schwester ihn ärgerte, indem sie Wurzelgrashüpfer in seiner Kleidung versteckte. Jedes Mal sprang er wild umher, wenn er die Hose angezogen hatte und der Grashüpfer anfing, sich zu bewegen. Ihr Lachen klingt immer noch in seinen Ohren und eine Träne läuft seine schmale linke Wange herunter. Es wird nie wieder so sein … Mit diesem letzten, traurigen Gedanken schläft Silas endgültig ein und seine Augen fallen zu.

Ein Wassertropfen fällt zu Boden und zerspringt. Da, noch einmal. – Platsch. Vorsichtig öffnet Silas ein Auge. Er findet sich in einer dunklen Höhle wieder. Indirektes Licht ermöglicht es, ein wenig von der Umgebung zu erkennen, auch wenn für ihn nicht erkennbar ist, woher dieses Licht kommt. Nur mit einer dünnen Leinen-Hose bekleidet liegt er auf dem harten Steinboden. Da sieht er den nächsten Tropfen fallen. Platsch, direkt in sein Gesicht. Mit der rechten Hand reibt sich Silas das Gesicht wieder trocken, um anschließend aufzustehen. Als er sich umsieht, fällt ihm auf, dass die Höhle nicht besonders groß ist. Nur ein schmaler Gang scheint aus der Höhe herauszuführen. Vorsichtig, Schritt für Schritt, geht Silas los. Seine Füße schmerzen schon bald von dem harten und unebenen Steinboden, auf dem überall kleine, spitze Steinchen verteilt sind. Die Kiesel drücken sich tief in seine Fußballen ein, doch tapfer geht er weiter. Da erklingt aus der Ferne leise Musik. Eine einzelne Harfe spielt eine traurige Melodie. Mit jedem Schritt, den er vorwärts geht, wird es heller und die Musik lauter. Da erreicht Silas eine weitere Höhle. Mitten in diesem neuen Gewölbe stehen zwei Menschen, die von einem goldenen Schimmer umgeben sind. Beide wirken wie Luftspiegelungen: Nicht real, aber doch wahrnehmbar. Einer der beiden trägt eine Kutte, wie Silas sie oft bei den Priestern der Dwayna gesehen hat. Der andere trägt eine prachtvoll glänzende Rüstung. Plötzlich zieht der Rüstungsträger eine Waffe und greift unvermittelt damit die neben ihm stehende Gestalt an. Schimmernd bleibt das Bild des Opfers zurück, während der Angreifer sich in Nichts auflöst. Silas läuft auf die verletzte Person zu, um ihm zu helfen, doch seine Hände greifen einfach, wie bei einem Geist, durch den Körper hindurch. Der Gesichtsausdruck der verletzten Person ist voller Angst und Schmerz und sie bittet um Hilfe, aber Silas kann nichts tun. „Wer bist du?“, fragt der Junge. „Ich glaube, dich zu kennen.“ Da hebt das Wesen die Hand und zeigt an den Rand der Höhle. Silas schaut in die gewiesene Richtung und sieht an der Wand verschiedene Zeichnungen. Die erste abgebildete Szene zeigt den Kampf, den er vorhin mit eigenen Augen beobachtet hat. Die zweite Zeichnung zeigt eine Karte gesamt Tyrias, wo an sechs verschiedenen Stellen Markierungen angebracht sind. Auf der dritten Abbildung sieht er – es dauert eine Zeitlang, bis es ihm klar wird – Grimma Flinkepfote, Isengora und ihn selbst, wie sie Götterfels verlassen und von den Priestern verabschiedet werden. Silas versteht nichts von dem, was er da gerade sieht und dreht sich deshalb wieder um. Er erkennt nur noch einen letzten blassen Schimmer des verletzten Wesens, bevor das Bild vollkommen verschwindet. Die Höhle und damit die ganze Umgebung beginnt vor seinen Augen zu pulsieren und Dunkelheit umströmt ihn, als alles vor seinen Augen schwarz wird.

5. Die Vorbereitungen laufen

Die ersten Strahlen der Sonne schieben sich langsam über das Fensterbrett, bis sie Grimma Flinkepfotes Gesicht erreichen. Nur ein Spalt weit öffnen sich ihre Augen, während mit einem Schlag der Traum an die Oberfläche ihres Bewusstseins steigt. „BRANDOR!“, ruft Grimma laut aus. Da kommt aus dem Nebenbett protestierendes Gemurmel. Mit beiden Pfoten am Kopf versucht Grimma, sich die Ereignisse der vergangenen Nacht ins Gedächtnis zurückzurufen. War alles nur ein Traum? Da fallen ihr die Eierschalen auf, die in ihrem ganzen Bett verteilt liegen. Vorsichtig nimmt sie mit der einen Pfote ein Stück von der Schale und schnuppert dran. Es ist eindeutig die Schale eines Verschlinger-Eies. Verwirrt fällt sie wieder zurück ins Bett, nur um schlagartig aufzuspringen und in Richtung Tür zu laufen. Sie muss Isengora so schnell wie möglich von ihrem Traum erzählen.

Isengora spürt einen harten Aufschlag, der sie jäh aus ihren Träumen reißt. Gerade noch in ihrem Bett in zwei Metern Höhe liegt sie nun auf ihrem Hintern auf dem harten Holzfußboden. Ohhh verdammt, was ist passiert? Bin ich abgestürzt? Da fällt ihr der Traum der vergangenen Nacht ein. War sie darin nicht auch zum Schluss geflogen? Blödsinn, sie war aus dem Bett gefallen, das war alles. Ihr fällt ein Essensrest zwischen ihren Zähnen auf. Vorsichtig nimmt Isengora einen Bleistift und versucht, damit das Stück aus ihren Zähnen herauszupulen. Als es ihr endlich gelingt, stellt sie fest, dass es ein Stück von einem Greifen-Ei Omelett ist. Aber das kann doch nicht sein. Ich habe das alles doch nur geträumt, oder? In dieser Sekunde kommt Grimma hereingestürmt. Mit großen Sprüngen stürmt sie in das Zimmer, nur um über Isengora zu fallen, die immer noch am Boden liegt. „Was beim Schnurrbart meiner Großmutter machst du hier auf dem Boden?“, fragt Grimma, nachdem sie wieder aufrecht steht. Isengora schaut sie nur grinsend an und meint: „Schleppst du immer Reste deines Frühstücks mit dir herum?“ Sie zeigt dabei auf das Stück Eierschale in Grimmas Pfote. „Und wieso hast du Reste eines gebratenen Eies an deiner Hose hängen?“, fragt Grimma zurück. Langsam steht Isengora auf, geht zum Tisch und setzt sich auf einen Stuhl.

„Ich habe heute Nacht geträumt und in dem Traum habe ich ein Greifen-Ei Omelett gegessen“. Grimma stellt sich vor Isengora hin, damit sie ihr in die Augen schauen kann. „Ich habe auch geträumt, nur dass es bei mir ein Verschlinger-Ei war, das ich gegessen habe.“ Wie zum Beweis hält Isengora die Schale des Verschlinger-Eies vor Isengoras Nase. „Wie kann das sein?“, fragt die Norn und Grimma schüttelt nur den Kopf. „Erzähl mir von deinem Traum, Isengora“, bittet Grimma. Die Norn fängt an zu erzählen. Während der Erzählung fangen die Schnurrhaare von Grimma an, wild zu vibrieren und ihr Fell sträubt sich. Als die Geschichte endet, teilt Grimma ihre Geschichte mit ihrer Freundin. Dabei bleibt auch Isengora nicht ruhig. Mitten in der Erzählung gibt es einen lauten Knall, als die Norn den Bleistift, den sie zuvor für ihre Zahnreinigung benutzt hat, in der Mitte durchbricht. Erschrocken zuckt Grimma zusammen und Isengora schaut sie schuldbewusst an, bevor sie schließlich weiterredet. Am Ende der beiden Geschichten bleibt ungläubiges Staunen und eine Frage, die die beiden umtreibt: Wer ist der oder die Dritte im Bunde? Die beiden schauen sich an und dann stürmen sie los. „Silas!“, ruft Grimma. „Er muss der Dritte sein.“ – „Und, wenn er es nicht ist?“, meint Isengora. Wenig später sind die beiden im Schlafraum der Jungen angekommen. Ohne zu klopfen, stürmen sie in das Zimmer. Schreie, fliegende Kopfkissen und ein heilloses Durcheinander sind die Folge. Isengora stürmt auf das Bett von Silas zu, der sie entsetzt anstarrt. „Los, komm mit“, faucht Grimma, „wir müssen reden. – Jetzt sofort!“ Da es Isengora zu langsam geht, schnappt sie sich kurzerhand den Blondschopf und zerrt ihn unsanft aus seinem Bett und heraus aus dem Zimmer. Wenig später sitzen die drei im Gemeinschaftsraum vor dem Kamin. „Kann mir jemand sagen, was los ist?“, fragt Silas, ernsthaft verärgert. „Hast du heute Nacht etwas geträumt?“, kommt da von Grimma. Silas schaut sie verwundert an und fragt: „Geht unsere Reise schon los? Und wisst ihr, wer verletzt wurde?“ Isengora und Grimma schauen Silas überrascht an. In dieser Sekunde kommt Priester Hazadim herein und setzt sich mit ernstem Gesichtsausdruck zu den dreien an den Kamin. „Dwayna mit Euch. Wie ich höre, habt Ihr euch im Schlafraum der Jungs sehr beliebt gemacht. Wollt Ihr mir erzählen, was passiert ist?“ So beginnen alle von ihren Träumen zu erzählen und mit jedem Bericht verdüstert sich das Gesicht des Priesters mehr. Am Ende ihrer Erzählungen steht er auf und bittet die Kinder, ihm zu folgen. Sie verlassen das Waisenhaus und laufen die Straßen im Salma-Viertel herunter in Richtung Südosten, bis sie zu einem Haus kommen, das unterhalb der Drachenrutsche liegt. „Hier wohnt Ihan, Mitglied im Orden der Gerüchte und Heiler. Er hat einen besonderen Patienten von uns.“ Der Priester führt sie durch ein Treppenhaus nach oben in den zweiten Stock. Der Raum, in dem sie ankommen, ist klein und neben einer Trennwand aus Holz und einem Stuhl ist so eben noch Platz für das Bett, welches sich an die Wand drückt. In diesem Bett liegt ein Mädchen von vielleicht 13 Jahren. Ihre langen, braunen Haare liegen wirr um ihren Kopf herum. Ihr Gesicht ist bleich und Schweißperlen zeichnen sich auf ihrem Gesicht ab. Es riecht nach Pastinakenwurzel und Salbei. „Das ist Kaia!“, ruft Silas beim Anblick des Mädchens aus und stürmt vor auf das Bett zu. Mit seiner rechten Hand streichelt er über ihr Gesicht und spürt sofort das Fieber, das in ihrem Körper tobt. „Was ist passiert?“, fragt Isengora. „Kaia versuchte Spenden für unser Waisenhaus einzusammeln. Dabei kam sie dem Tor, welches den Doric-See von Götterfels trennt, gefährlich nahe. Pfeile kamen von der anderen Seite angeflogen und einer davon traf Kaia am Arm. Sie versuchte, ihn herauszuziehen, schaffte es aber nicht. Gassenschleicher fanden sie so auf dem Boden liegend und brachten sie hierher, zu Ihan. Er entfernte den Pfeil, aber es war schon zu spät. Das Gift, in das der Pfeil getunkt worden ist, war bereits in ihre Blutbahnen gelangt. Ihan hat uns wenig Hoffnung auf Besserung gemacht. Seiner Schätzung nach kann er das Unvermeidliche noch maximal bis zum nächsten doppelten Vollmond hinauszögern, also 28 Tage. Danach kann er nicht mehr versprechen, ihr mit seinen Kräften noch helfen zu können.“ Silas kniet neben dem Bett von Kaia und weint bitterlich. „Bitte, du darfst nicht sterben.“ Grimma und Isengora stellen sich an Silas Seite und legen jeweils eine Hand oder Pfote auf seine Schulter. „Du bist nicht allein“, flüstert Grimma ihm ins Ohr. Da tritt Priester Hazadim an die drei heran. „Ihr wurdet von den Göttern auserwählt. Ich weiß nicht warum und ich weiß auch nicht, was Euch zu etwas Besonderen macht, aber das spielt auch keine Rolle. Wir werden heute den Tag damit verbringen, Eure Reise vorzubereiten und morgen Früh werdet Ihr, wie unsere Götter es wünschen, aufbrechen. Hoffentlich findet Ihr schnell genug Heilung für Kaia.“ Mit diesen Worten dreht sich Prieser Hazadim um und verlässt das Haus. Grimma und Isengora folgen ihm, nur Silas bleibt noch einige Zeit zurück, um Kaia leise zu versprechen, dass er alles ihm mögliche tun wird, ihr zu helfen.

6. Die Ausrüstung

Es ist schon Nachmittag, als Silas zurück ins Waisenhaus kommt. „Du kommst spät“, meint Grimma in Richtung Silas. „Priester Hazadim, Priesterin Kutay und Ihan warten auf uns im großen Gemeinschaftsraum.“ Silas antwortet seinen Freunden nicht. Seine blonden Haare, die sonst wild hin und her fliegen, kleben heute an seiner Stirn und die Augen funkeln abwechselnd in Wut, Besorgnis und Trauer. „Geht vor“, antwortet er nur leise. „Ich bin in 15 Minuten bei Euch.“ Während die beiden anderen ohne einen weiteren Kommentar in den großen Gemeinschaftsraum gehen, läuft Silas weiter die Treppe hoch zum welken Blatt. So nennen sie den Bereich, wo sich morgens alle Kinder duschen. Er zieht sich aus und lässt dann eiskaltes Wasser vom Blatt auf sich herunter regnen. Er ist so wütend auf den Weißen Mantel für das, was Kaia angetan wurde. Und er ist wütend auf die Götter. Wie konnten sie zulassen, das Kaia so etwas passiert? Es ist die Angst, die Silas zu diesen Gedanken treibt. Er hat Kaia versprochen und geschworen, dass er alles tun wird, um sie zu retten. Sie hat schwach protestiert. Auch wenn Silas glaubt, dass sie wegen des Fiebers nur phantasierte, als sie das sagte. Für ihn ist es ein Grund mehr zu diesem Abenteuer aufzubrechen. Alles wird wieder gut, wir müssen nur an Dwayna glauben. Irgendwann kommt kein Wasser mehr nach und Silas fröstelt es, als er sich dessen bewusst wird. Unkontrolliert fängt er an, am ganzen Körper zu zittern. Schnell nimmt er sich eines der groben Leinentücher und trocknet sich damit ab. Dann schlüpft er in neue Sachen und begibt sich nach unten in den Gemeinschaftsraum. Als er die Tür öffnet, schauen Grimma und Isengora ihn böse an. Erst jetzt realisiert er, dass er über 45 Minuten benötigt hat, um hier zu erscheinen. Doch bevor er den Gedanken weiter verfolgen kann, erhebt Priesterin Kutay ihre Stimme. Jedoch lässt sie kein Wort der Kritik über Silas Verspätung verlauten: „Sein Weg ist genauso lang wie der Eure. Die Zeit, in der ihr jetzt auf ihn gewartet habt, wird er genauso auf Euch warten, wenn ihr unterwegs seid und Zeit benötigt. Bitte komm und setze dich zu uns in die Runde, Silas.“ Der Junge bemerkt, dass alle in einem kleinen Kreis zusammensitzen. Priester Hazadim, rechts daneben Isengora, anschließend folgt Priesterin Kutay, welche Grimma Flinkepfote neben sich sitzen hat. An der Seite der Charr sitzt Ihan, der Heiler aus dem Orden der Gerüchte, und schließlich erkennt Silas einen freien Platz, den er nun rasch einnimmt.

Priester Hazadim blickt Isengora an und erklärt bedeutungsvoll: „Du bist die jüngste aber körperlich die stärkste und größte von Euch dreien, da du aus dem Volk der Norn stammst. Als wir dich vor drei Jahren aufgenommen haben, waren deine Worte: Ich will in Zukunft die Schwachen beschützen und die Verletzten heilen. Du hast dir den Weg des Wächters ausgesucht und so haben wir dich in den letzten drei Jahren darin ausgebildet. Weitere vier Jahre werden vergehen, bist du die volle Ausbildung durchlaufen hast. Die Götter haben Dich jedoch auserwählt und so wurde die Entscheidung getroffen, Dir schon jetzt eine Rüstung und Waffen an die Hand zu geben, welche Dir und Deinen Freunden den bestmöglichen Schutz bieten sollen. Dazu wurde die Rüstung von einem Waffenschmied extra für Deine Größe und Deinen Fähigkeiten angepasst. Du erhältst eine ruhmreiche Helden-Rüstung mit soldatischen Werten. Sobald Du die Rüstung anlegst, wird deine Kraft stark ansteigen, Verletzungen werden Dich nicht so stark behindern und auch Deine Lebenskraft wird von der Rüstung verstärkt. Nutze diese Eigenschaften, um Deine Freunde zu beschützen. Bei Gefahr kannst Du entweder auf einen nebelgeschmiedeten Helden-Stab zurückgreifen, um Deine Freunde zu unterstützen oder Du nutzt das nebelgeschmiedete Helden-Großschwert, um selbst Eure Gegner zu attackieren. All dies ist ein ganz persönliches Geschenk aus meiner Vergangenheit, bevor ich Priester der Dwayna wurde. Ich bin mir sicher, dass die Ausrüstung in Dir eine würdige Trägerin finden wird.“

Priester Hazadim steht kurz auf und geht zu einem Schrank, daraus nimmt er sechs Rüstungsteile und zwei Waffen. Diese legt er hinter Isengora, die schon aufstehen und alles ausprobieren möchte. Doch Hazadim schüttelt nur den Kopf und so bleibt Isengora im Kreis sitzen, weshalb sie nun unruhig auf ihrem Platz hin und her rutscht.

Priesterin Kutay schaut nach rechts auf die junge Charr. „Grimma Flinkepfote, als ich Dich damals fand – halb verhungert und umlagert von Ratten – war Dein erster Satz: Ich bin die Jägerin, nicht die Beute. Dein Wunsch war es, Waldläuferin zu werden und so haben wir dich über die letzten drei Jahre ausgebildet. Mit der Erfahrung, die du mit Deinen Eltern hast sammeln können, bist du zwar weiter als Deine Freunde, aber noch mindestens zwei Jahre des Studiums liegen vor Dir. Auch Du bist von den Göttern auserwählt und so benötigst auch Du eine Rüstung, die Dich bei Eurem Abenteuer unterstützt. Ein Freund und Lederer schuldete mir noch einen Gefallen. Er nahm meine alte Rüstung und hat sie umgearbeitet. Somit bekommst auch Du eine ruhmreiche Helden-Rüstung, aber mit hauptmännischen Werten. Jeder Schuss mit dem Langbogen trifft Dein Ziel mit gnadenloser Präzision. Die Kraft deiner Pfoten werden sich bedeutend verstärken und solltest Du doch mal von einem Angriff getroffen werden, wirst Du eine erhöhte Zähigkeit feststellen. Dich wird nichts so schnell zu Boden bringen. Als Waffen werde ich Dir einen nebelgeschmiedeten Helden-Langbogen zur Verfügung stellen und für Kämpfe Auge in Auge mit Deinem Gegner ein nebelgeschmiedetes Helden-Schwert sowie eine nebelgeschmiedete Helden-Axt.“ Mit diesen Worten steht Priesterin Kutay auf und geht an den selben Schrank wie Priester Hazadim zuvor. Auch sie nimmt sechs Rüstungsteile und drei Waffen aus dem Schrank und legt diese hinter Grimma Flinkepfote ab.

Heiler Ihan aus dem Orden der Gerüchte schaut in die Runde. „Die Priester haben mir erzählt, dass Du, Silas, drei Tage verschüttet in der Kanalisation gelegen hast, bis Du gefunden wurdest. Du hattest Angst vor der Dunkelheit, hast gefroren und es gab nichts zu trinken. Nicht ein Luftzug, der dir Hoffnung versprach. Als Du endlich befreit werden konntest waren Deine Worte: Das Licht, das die Nacht erhellt, soll mein Feuer sein. Das Wasser, das Leben und Heilung spendet, soll meine Hilfe sein. Der Wind soll meine Hoffnung tragen an alle, die es benötigen, und wenn ich nochmals verschüttet werden sollte, will ich die Erde aus eigener Kraft bewegen. Ich will Elementarmagier werden. So haben die Priester begonnen Dich auszubilden. Wie die beiden anderen, so bist auch Du auserwählt. Doch auch Deine Ausbildung ist noch nicht zu Ende. Etwas an Dir ist allerdings anders. Grimma und Isengora gehen auf diese Abenteuer, weil es die Aufgabe gebietet und noch dazu Ehre, Ruhm und Anerkennung verspricht. Du jedoch, Silas, gehst, weil die Hoffnung und ein Gefühl, das stärker ist als jede Vernunft, Dich treibt. Aus diesem Grund bekommst Du, bis dieses Abenteuer vorbei ist, als Leihgabe vom Orden der Gerüchte die leichte Phönix-Rüstung sowie den Stab Azimut. Mit der Kraft der Rüstung und der Waffe, verbunden mit der Präzision und der Wildheit kannst du Meteore vom Himmel auf Deine Gegner regnen lassen und sie in Lavafontänen hüllen. Doch sei gewarnt, Silas: Du hast hinten keine Augen. Wenn ein Gegner dich trifft, dann hoffe, dass Isengora in deiner Nähe ist oder Du kannst das gegebene Versprechen niemals erfüllen.“ Damit steht Ihan auf, geht in einen Nebenraum und kommt mit den Rüstungsteilen und dem Stab zurück, um diese hinter Silas abzulegen.

Die Priester und Ihan stehen auf. „Wir werden Euch jetzt für einige Stunden hier im Gemeinschaftsraum alleine lassen, damit Ihr die Ausrüstung anlegen und euch mit Ihr vertraut machen könnt. Pristerin Kutay, Ihan und ich werden in der Zwischenzeit den zu den Rüstungen passenden Schmuck holen. Dazu wird jeder noch Taschen bekommen, in denen Ihr wertvolle Sachen verstauen könnt, die Ihr unterwegs findet.“ Mit diesen letzten Worten drehen sich Hazadim und die beiden anderen um und verlassen den Raum. Isengora und Grimma springen sofort auf und beginnen ihre Sachen auszuziehen, um die Rüstungen anzulegen. Nur Silas kniet noch vor der Rüstung und legt seine rechte Hand darauf. Seine Lippen bewegen sich, aber kein Ton kommt heraus. Erst als die beiden anderen ihre Rüstung schon halb angezogen haben, beginnt auch Silas sich auszuziehen um seine Rüstung anzulegen. Mit jedem Teil, das er am Körper trägt, fühlt er sich mächtiger. Seine sonst so schmale Figur und seine dünnen Arme scheinen plötzlich zu wachsen. Durch das neue Beinkleid fühlt er den Sturm, den er entfachen kann. Durch die Schuhe hat er eine direkte Verbindung zur Erde, die sich nach seinem Willen bewegt und sich verändert. Aus den Handschuhen quillt auf seine Gedanken hin Wasser. Zuerst nur ein kleines Rinnsal, doch dann immer mehr, sodass Grimma, als sie plötzlich davon getroffen wird, laut faucht: „Pass doch auf!“ Als Silas schließlich den Mantel anlegt, spürt er das Feuer in sich auflodern. Nur mit Mühe kann er den Versuch unterdrücken, seine neu gewonnene Macht sofort auszuprobieren. Er spürt es: Wenn er sich jetzt nicht beherrschte, fackelte er nicht nur den Gemeinschaftsraum ab, sondern gleich auch das ganze Waisenhaus. Zum Schluss setzt er die Kapuze auf, die Teil des Mantels sein kann. Jetzt erst, wo die Rüstung komplett ist, spürt er über die Möglichkeiten der Kapuze. Mit ihr kann er den Rest der Rüstung steuern. Obwohl die Kapuze die Effekte nur verstärkt, hat Silas trotzdem den Eindruck, dass es nun einfacher ist, die restliche Rüstung zu beherrschen und so auch sich selbst.

Isengora probiert in der Zwischenzeit bereits ihren Stab. Mit einem Zeichen, das der Stab auf dem Boden zeichnet, gewinnt sie plötzlich eine enorme Geschwindigkeit und, als sie den Stab hoch in die Luft streckt, bekommen die beiden anderen das Gefühl nochmals zu wachsen und an Kraft zuzulegen. „Was für meine Macht!“, ruft Isengora begeistert. Grimma nutzt die Gelegenheit, um Ihren neu erlangten Bogen zu testen. Isengora greift sich einen Holzstuhl und wirft ihn in die Luft. Grimma legt an, zielt und im Bruchteil einer Sekunde hängt der Stuhl mit einem Pfeil unter die Holzdecke gepinnt. Während Grimma und Isengora laut loslachen, schaut Silas zu seinem Stab, der immer noch unberührt am Boden liegt. Mit einem leichten Luftstoß, fliegt dieser in Silas rechte Hand ohne dass er sich selbst hat bewegen müssen. Ein kurzer Blick nach oben und der Pfeil von Grimma verbrennt zu feiner Asche, sodass der Stuhl wieder krachend zu Boden fällt. Mit staunenden Augen schauen die beiden den jungen Elementarmagier an. „Wir sind ein gutes Team! Zusammen werden wir es schaffen“, meint Isengora. „Kommt, lasst uns die Hände zusammenlegen.“ So treffen sich die drei in der Mitte des Raumes und schwören: „Wir werden das Waisenhaus erhalten für alle, die es nach uns brauchen. Wir werden Kaia retten und werden herausfinden, was es mit den Eiern der Götter auf sich hat.“ Danach ziehen alle ihre Rüstung wieder aus und gehen eine Etage nach oben in das große Esszimmer, denn der Hunger der jungen Abenteurer ist mittlerweile sehr groß geworden.

7. Der Abschied

Als sich das Licht des neuen Morgens über das Dach des Waisenhauses hinweg ausbreitet, treffen sich Grimma, Isengora und Silas im Frühstücksraum. Nervös, voller Spannung auf das, was sie erwartet, aber auch sehr stolz nehmen die drei an ihrem üblichen Tisch Platz.

Isengora ist die einzige, die einen klaren Hinweis bekommen hat, wo ihre Reise beginnen sollte. „Oder wie war das bei Dir, Silas?“ Der Blondschopf schüttelt den Kopf: „Ich habe nur geträumt wie Kaia verletzt wurde und, dass wir auf eine lange Reise gehen. – Wohin genau müssen wir noch mal reisen, Isengora?“ fragt Silas. „Unser Weg führt uns zur Schwingenwarte. Ich habe wahrscheinlich den Startpunkt genannt bekommen, weil das Gebiet zu den Zittergipfeln gehört und damit zu meiner Heimat. Wenn ich das ganze richtig im Kopf habe, führt uns unser Weg über das Königintal zu den Gendarran Feldern und dann weiter zu Lornars Pass. Mit ein bisschen Glück erreichen wir in zwei Tagen unser Ziel.“ In diesem Moment tritt Priester Hazadim an den Tisch. „Euer Schmuck ist fertig.“ Mit diesen Worten überreicht er jedem ein Holzkästchen. Grimma und Isengora greifen sofort zu und beginnen damit, den Ohrschmuck anzulegen, während Silas beiden interessiert zuschaut. Als er die Ringe und das Amulett sieht, steigt auch sein Interesse und er öffnet sein Kästchen. Langsam nimmt er das Amulett heraus und legt es sich um den Hals. Als es auf seiner Brust liegt, spürt er ein Kribbeln und das Klopfen seines Herzens beschleunigt sich. Wie bereits gestern hat er das Gefühl, zu wachsen und stärker zu werden. Dann greift er vorsichtig nach den Ringen. Einen für die linke und einen für seine rechte Hand schiebt er sie auf seine Finger und das warme Gefühl, das vorher schon auf seiner Brust zu spüren war, breitet sich über beide Hände aus. Dann schließt er das Kästchen. „Moment“, ruft Isengora in diesem Moment, „da fehlen noch die Anhänger für die Ohren!“ – „Nun ja …“, fängt Silas an und wird schlagartig rot. „Ich habe keine Ohrlöcher.“ Da fängt Grimma an zu lachen und schaut Isengora dabei an. Diese kneift schnell eine Auge zu und macht sich bereit. Mit einem Satz springt Isengora auf und landet hinter Silas Platz, um seinen Kopf festzuhalten. Im selben Augenblick springt Grimma direkt vor Silas auf den Tisch und, bevor dieser weiß wie ihm geschieht, sticht sie mit einer Kralle ein winziges Loch in seine Ohrläppchen. Silas ist total perplex von der überraschenden Aktion und so es dauert einige Sekunden, bis ein „Au!“ aus seinem Mund kommt. Isengora und Grimma sitzen schon längst wieder auf ihren Stühlen und grinsen Silas an. Er blickt böse zurück und meint: „Wenigstens fragen hättet ihr können, oder?“ Ein gemeinsames „Nein.“ erschallt und alle fangen an zu lachen. So öffnet Silas wieder das Kästchen und nimmt nun noch die Ohrstecker heraus.

Das Kribbeln, dieses Mal am Kopf, setzt wieder ein und es fühlt sich einfach gut an.

Wenig später bringt Priester Hazadim einige Taschen mit fünfzehn Plätzen, jeder erhält vier Stück. Dazu kommen die zwanzig Plätze, welche die Rüstungen selbst schon bieten. „Das sollte reichen“, meint Hazadim, „um Beute von unterwegs mit zu nehmen und später bei Händlern verkaufen zu können.“ – „Dürfen wir erfahren, was Euer erstes Ziel sein wird?“, fragt Priesterin Kutay, die an die Seite des Priesters getreten war. „Wir müssen in den Lornars Pass“, kommt es von Isengora. „Ich habe mir auf der großen Karte den Weg schon angeschaut. Es ergibt keinen Sinn durch das Asura Portal nach Hoelbrak zu reisen. Die Berge verhindern den direkten Weg. Das bedeutet, wir müssen über das Königintal und die Gendarran Felder, um den Lornars Pass zu erreichen. Wenn wir jetzt gleich aufbrechen, sollten wir in zwei Tagen ankommen.“ Die Priester nicken und schauen den Dreien dabei zu, wie sie ihre Rüstung und Taschen anlegen. Ein Anflug von Wehmut erscheint auf dem Gesicht von Hazadim, als er die Gruppe so sieht, doch schnell verwandelt es sich in ein Lächeln, denn er hat noch eine letzte Überraschung für seine großen Kleinen: „Es möchten sich noch einige von Euch verabschieden“, erklärt er und schon wird die Tür zum Frühstücksraum aufgerissen und die anderen Kinder des Waisenhauses kommen hereingestürmt. Ein staunendes „Oh“ und „Ah“ wechselt sich ab mit den besten Wünschen und Tränen des Abschieds. Nach einer gefühlten Ewigkeit, die in Wahrheit nur wenige Minuten waren, öffnet sich ein Spalier innerhalb der Kinder, welches die drei Abenteurer bis nach draußen vor die Tür des Waisenhauses geleitet. Isengora, Grimma und Silas schreiten an ihren Freunden vorbei und, als sie den letzten von ihnen passiert haben, trauen sie sich nicht mehr zurückzuschauen. Keiner soll ihre Tränen sehen – das Abenteuer hat begonnen.